Die Kreuzzüge
waren so zahlreich, und seine Tugenden so überreich, dass dieses Buch sie nicht alle fassen kann«. 1
Moderne Historiker haben – mit unterschiedlichem Erfolg – versucht, hinter diese panegyrischen Kulissen zu schauen, um zu einem [262] authentischen Bild Nur ad-Dins zu kommen, was erstaunlich unterschiedliche Ergebnisse zeitigte. Ein wichtiges Element dieser Forschungen war der Versuch, den Zeitpunkt der Umkehr im Leben des Emirs festzumachen, den Moment spiritueller Erleuchtung, nach dem er sich dann im Gewand des Mudschahid zeigte. 2 Im Zusammenhang mit den Kreuzzügen sind zwei ineinander verschränkte Komplexe von Bedeutung. Nur ad-Din verbrachte einen beträchtlichen Teil seines Lebens damit, gegen muslimische Glaubensgenossen zu kämpfen – tat er das um eines höheren Zieles willen, wollte er den Islam für den Dschihad vereinen, oder war der heilige Krieg lediglich ein bequemer Vorwand, hinter dem er ein zangidisches Reich aufbauen konnte? Außerdem: Begann Nur ad-Din als ehrgeiziger, auf seine eigenen Interessen bedachter türkischer Kriegsherr, der dann (an einem gewissen Punkt) eine religiöse Erweckung erlebte und sich mit umso größerem Eifer ganz dem heiligen Krieg verschrieb? Zum Teil kann man diese Fragen beantworten, wenn man den Werdegang Nur ad-Dins verfolgt – wenn man genauer untersucht, wann und warum er gegen die Lateiner kämpfte, und wenn man erwägt, wie sich seine Beziehungen zu den sunnitischen Muslimen von Syrien, den schiitischen Fatimiden Ägyptens und den byzantinischen Griechen gestalteten.
DIE SCHLACHT VON INAB
Im Sommer 1149 griff Nur ad-Din, um seinen Einflussbereich in Nordsyrien auszuweiten, das christliche Fürstentum Antiochia an. Seit Ende 1148 war seine Gefolgschaft verschiedentlich – allerdings ohne nennenswertes Ergebnis – in kleineren Gefechten mit antiochenischen Truppen zusammengestoßen. Im Juni 1149 nun profitierte Nur ad-Din von der Wiederannäherung an Unur von Damaskus und bat diesen um Verstärkung; dann stellte er ein stattliches Invasionsheer mit 6000 berittenen Kriegern an der Spitze auf. Die Geschichtswissenschaft hat sich nicht sonderlich bemüht, die Motive des Herrschers von Aleppo zu verstehen; man nahm an, dass er lediglich die Konfrontation mit Fürst Raimund von Antiochia suchte. Aber ebenso wie bei seinem Vorgänger Il-ghazi im Jahr 1119 hatten Nur ad-Dins Aktionen wahrscheinlich einen sehr genau definierten strategischen Zweck.
Im Jahr 1149 beschloss Nur ad-Din, zwei lateinische Vorposten – [263] Harim und Apamea – zu erobern. Die Festungsstadt Harim lag am Westrand der Belus-Berge, in einer beherrschenden Position mit Ausblick über die Ebenen von Antiochia. Sie war von der Stadt Antiochia nur 20 Kilometer entfernt; seit der Zeit des ersten Kreuzzugs befand sich der Ort in der Hand der Lateiner. Die natürliche Barriere der Belus-Berge spielte in den Auseinandersetzungen zwischen Aleppo und dem Fürstentum seit langem eine wichtige Rolle. Zu Beginn des 12. Jahrhunderts, als Antiochia im Aufstieg begriffen war, hatten die Franken Gebiete östlich dieser zerklüfteten Berge eingenommen und damit die Sicherheit Aleppos unmittelbar bedroht. Sie wurden dann erst von Il-ghazi, anschließend von Zangi zurückgedrängt, und als Grenze ergab sich wieder die Linie, die dem natürlichen Verlauf des Gebirges folgte. Doch mit diesem Gleichgewicht wollte Nur ad-Din sich nicht zufriedengeben. Ihm ging es um die Einnahme von Harim, das heißt darum, jenseits der Gebirgskette Fuß zu fassen und damit die geschützte Ostgrenze Antiochias aufzubrechen.
Außerdem hatte Nur ad-Din Apamea am südlichen Rand des Summaq-Plateaus zum strategischen Ziel erklärt. Bislang hatte Antiochia das Summaq-Gebiet kontrolliert und so die wichtigsten Verkehrswege zwischen Aleppo und Damaskus bedroht, doch in den späten 1130er-Jahren hatte Zangi bereits einen großen Teil dieses Bereichs zurückerobert. Im Jahr 1149 blieb den Franken nur noch ein schmaler Korridor, der das südliche Orontes-Tal mit dem zunehmend isolierten Außenposten Apamea verband. Das Hauptziel Nur ad-Dins im Jahr 1149 scheint die Eroberung dieser befestigten Siedlung gewesen zu sein, womit er den Rest lateinischer Präsenz in der Summaq-Region beseitigen wollte. Seine bisherigen Versuche, das auf einem aus der Antike stammenden Tell gelegene Apamea im direkten Angriff zu nehmen, waren gescheitert. Nur ad-Din änderte daraufhin seine Taktik und versuchte, die Stadt zu isolieren und die wichtigste
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