Die Kreuzzüge
Rachekämpfe waren allgegenwärtig und Gesetzlosigkeit weit verbreitet. Die Gesellschaft war stark ortsgebunden. Noch immer hatte die Natur den europäischen Westen fest im Griff: Weite Landstriche waren von dichtem Wald bedeckt, und die meisten größeren Straßen stammten aus der römischen Kaiserzeit. Kaum jemand entfernte sich damals weiter als 70 Kilometer von seinem Geburtsort – was Fulks wiederholte Reisen nach Jerusalem und später die Popularität der Kreuzzüge ins Heilige Land umso erstaunlicher macht. Massenkommunikation, wie wir sie heute kennen, gab es nicht, weil die meisten Menschen weder lesen noch schreiben konnten und der Buchdruck noch nicht erfunden war.
Trotzdem wurden im Lauf des Hochmittelalters (zwischen 1000 und 1300) in der abendländischen Kultur deutliche Zeichen von Entwicklung und Entfaltung spürbar. So entstanden immer mehr Städte, und das Bevölkerungswachstum trug dazu bei, den wirtschaftlichen Aufschwung und die Wiederaufnahme einer Volkswirtschaft auf Geldbasis zu befördern. Italienische Seehandelskaufleute, vor allem aus Amalfi, Pisa, Genua und Venedig, belebten den Fernhandel wieder. Andere verlegten sich auf militärische Expansion. Die Normannen Nordfrankreichs, Nachfahren der Wikinger, waren Mitte des 11. Jahrhunderts besonders aktiv: Sie siedelten sich in England an und eroberten Süditalien und Sizilien von den Byzantinern und den Sarazenen Nordafrikas. Gleichzeitig gewannen auf der Iberischen Halbinsel christliche Reiche Territorien von den Muslimen zurück.
Handel und militärische Eroberungen brachten die Westeuropäer, als sie über ihren frühmittelalterlichen Horizont hinauszublicken begannen, [20] in engeren Kontakt mit der übrigen bekannten Welt, vor allem mit den großen Mittelmeerkulturen: dem Byzantinischen Reich und der sich ausbreitenden arabisch-islamischen Welt. Diese alteingesessenen »Großmächte« waren historische Zentren von Wohlstand, hoher Kultur und militärischer Stärke. Als solche pflegten sie im europäischen Westen lediglich tiefste Provinz zu sehen – die trostlose Heimat wilder Stämme, unter denen es vielleicht tapfere Kämpfer gab, die aber ein Haufen unregierbaren Pöbels waren und daher keine ernstzunehmende Gefahr darstellten. Mit den Kreuzzügen wurde diese Hierarchie umgestoßen, auch wenn sich viele der Vorurteile bestätigten. 3
Das lateinische Christentum
Das antike Rom hat zweifellos sämtliche Aspekte der abendländischen Geschichte beeinflusst, doch das nachhaltigste Vermächtnis war sicher die Christianisierung Europas. Der Entschluss Konstantins des Großen, nach einer ihm gewährten »Vision« im Jahr 312 den christlichen Glauben anzunehmen, der damals lediglich von einer unbedeutenden Sekte aus dem Orient vertreten wurde, katapultierte diesen Glauben auf die Bühne des Weltgeschehens. In nicht einmal 100 Jahren hatte das Christentum als Staatsreligion das Heidentum im Imperium verdrängt, und durch diesen römischen Einfluss verbreitete sich das Evangelium über ganz Europa. Selbst als die Macht des Staates, der dieser neuen Religion den Antrieb gegeben hatte, zu bröckeln begann, nahm der christliche Glaube an Stärke weiter zu. Die neuen »barbarischen« Stammesfürsten Europas traten zum Christentum über und beriefen sich bald darauf, dass sie das von Gott garantierte Recht hätten, über ihre Stämme als Könige zu herrschen. Der mächtige Vereiniger Karl der Große verstand sich als »sakraler« Herrscher – ihm oblag das Recht und die Verantwortung, den Glauben zu schützen und zu verteidigen. Im 11. Jahrhundert war die lateinische Christenheit (so genannt aufgrund der in Schrift und Ritus verwendeten Sprache) fast in jeden Winkel des Abendlands vorgedrungen. *
[21] Eine zentrale Rolle kam in diesem Prozess dem Papst in Rom zu. Nach christlicher Tradition gab es über den Mittelmeerraum verteilt fünf große Väter oder Patriarchen: in Rom, Konstantinopel, Antiochia, Jerusalem und Alexandria. Der Bischof von Rom – der sich »papa« (Vater, Papst) nennen ließ – strebte unter diesen Fünf nach der Vormachtstellung. Während des gesamten Mittelalters kämpfte das Papsttum nicht nur um seine ökumenischen (weltweiten) »Rechte«, sondern auch um eindeutige, klare, unbestrittene Autorität über die kirchliche Hierarchie des lateinischen Westens. Der Untergang des Römischen und des Karolingerreichs hatte die Machtstruktur innerhalb der Kirche ebenso wie diejenige im weltlichen Bereich zerstört. In ganz
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