Die Kreuzzüge
Europa genossen die Bischöfe jahrhundertelang Autonomie und Unabhängigkeit von der päpstlichen Oberaufsicht; die meisten kirchlichen Würdenträger sahen ihre Beziehung zu den lokalen politischen Machthabern und den »sakralen« Königen des Abendlands als ihre wichtigste Loyalitätsbindung an. Und im frühen 11. Jahrhundert waren die Päpste fast ausschließlich damit befasst, ihre Autorität in Mittelitalien durchzusetzen; in den darauffolgenden Jahrzehnten mussten sie sich mitunter sogar mit einem Exil außerhalb Roms abfinden.
Dennoch war es dann ein römischer Papst, der den Anstoß zu den Kreuzzügen gab und Zehntausende lateinischer Christen dazu brachte, zu den Waffen zu greifen und im Namen der Christenheit zu kämpfen. Das erweiterte und stärkte natürlich auch die päpstliche Macht, doch darf der in Predigten eingebettete Aufruf zu diesen heiligen Kriegen nicht nur als zynischer, eigennütziger Akt interpretiert werden. Die Rolle des Papsttums als Urheber des Kreuzzugsgedankens vermochte die Autorität der römischen Kirche vor allem in Frankreich zu festigen, zumindest anfänglich schienen die Scharen der Kreuzfahrer den Befehlen des Papstes zu folgen, als wären sie päpstliche Armeen. Doch spielten auch weniger eigennützige Motive eine Rolle. Die Päpste betrachteten es als ihre Aufgabe, die Christenheit zu beschützen. Sie rechneten damit, dass sie sich nach ihrem Tod vor Gott für das Schicksal jeder einzelnen ihrem Schutz anbefohlenen Seele rechtfertigen mussten. Indem das Papsttum das Ideal eines christlichen heiligen Krieges ersann, in welchem alle Akte sanktionierter Gewalt dazu dienen sollten, die Seele des Kriegers von Sünde zu befreien, erschloss es für seine lateinische »Herde« einen neuen Weg zum Heil.
[22] Die Kreuzzüge waren nur eines von mehreren Indizien für einen wesentlich weiter reichenden Versuch, das lateinische Christentum zu erneuern: in der sogenannten Reformbewegung, die seit der Mitte des 11. Jahrhunderts von Rom ausging. Für das Papsttum waren sämtliche Fehler und Schwächen innerhalb der Kirche lediglich Symptome eines tiefer liegenden Übels: des verderblichen außerkirchlichen Einflusses weltlicher Herrscher. Und die einzige Möglichkeit, den Würgegriff abzuschütteln, mit dem Kaiser und Könige die Kirche gefangen hielten, sah der Papst darin, endlich sein von Gott verliehenes Recht auf höchste kirchliche Autorität durchzusetzen. Der entschiedenste Vertreter dieser Auffassung war Papst Gregor VII. (1073 – 1085). Er war zutiefst überzeugt, dass er auserwählt und in diese Welt gekommen war, die Christenheit zu verwandeln, indem er allein die Herrschaft über die Belange der lateinischen Kirche übernahm. Um dieses Ziel zu erreichen, war er bereit, fast alle Mittel einzusetzen – sogar die Gewalt durch Truppen im Dienst des Papstes, die er als »Soldaten Christi« bezeichnete. Obwohl Gregor zu rasch zu weit gegangen war und das Ende seiner päpstlichen Herrschaft im Exil in Süditalien erleben musste, haben seine kühnen Schritte viel dazu beigetragen, die ineinandergreifenden Ziele einer Reform der Kirche und einer Stärkung der päpstlichen Autorität voranzutreiben, und er schuf ein Fundament, von dem aus einer seiner Nachfolger (und einst sein Ratgeber), Papst Urban II. (1088 – 1099), zum Kreuzzug aufrufen konnte. 4
Urbans Aufruf zum heiligen Krieg wurde in ganz Europa gehört und begeistert aufgenommen. Denn hier war der christliche Glaube fast durchgängig fest verwurzelt, und im Unterschied zur heutigen europäischen Gesellschaft war das 11. Jahrhundert eine zutiefst spirituell geprägte Zeit. Die christliche Lehre wirkte sich auf praktisch jeden Bereich des menschlichen Lebens aus – auf Geburt und Tod, Schlafen und Essen, Heirat und Gesundheit –, und die Zeichen für die Allmacht Gottes waren für jeden klar erkennbar: Sie erschienen in »wunderbaren« Krankenheilungen, in göttlichen Offenbarungen und in Vorzeichen auf der Erde und am Himmel. Begriffe wie Nächstenliebe, Pflicht und Tradition vermochten im Menschen des Mittelalters eine Grundhaltung der Ergebenheit auszubilden, doch der wohl prägendste Einfluss ging von der Angst aus, ebenjener Angst, die in Fulk Nerra die Überzeugung nährte, seine Seele sei in Gefahr. Die lateinische Kirche des 11. Jahrhunderts [23] lehrte, dass auf jeden Menschen am Ende der Tage ein Augenblick des Gerichts wartete – das sogenannte Wiegen der Seelen. Ein Leben in Reinheit führte zum ewigen Lohn
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