Die Kreuzzüge
Erfahrungen und seine geistige Haltung veranschaulichen die Kräfte, die diese Epoche prägten und den Nährboden für die Kreuzzüge bildeten. Und es sollten Männer wie Fulk sein – darunter viele seiner leiblichen Nachkommen –, die in diesen heiligen Kriegen an vorderster Front kämpften.
Westeuropa im 11. Jahrhundert
Viele Zeitgenossen des Grafen Fulk Nerra waren von der Furcht umgetrieben, dass sie die letzten düsteren, verzweifelten Tage der Menschheit erlebten. Die apokalyptische Panik erreichte kurz nach 1030 ihren Höhepunkt, als allgemein angenommen wurde, die tausendste Wiederkehr des Jahrestages von Jesu Tod sei der Vorbote des Jüngsten Gerichts. Ein Chronist schrieb von dieser Zeit: »Die Regeln, die die Welt regierten, wurden durch Chaos ersetzt. Die Menschen wussten damals, dass das [Ende der Tage] gekommen war.« Diese greifbare Angst allein erklärt schon Fulks Büßergesinnung. Doch auch nach der damaligen kollektiven Erinnerung hatte es friedlichere, glücklichere Tage gegeben, ein goldenes Zeitalter, als christliche Kaiser von Gottes Gnaden regiert und im Einklang mit seinem göttlichen Willen Ordnung in die Welt gebracht hatten. Dies war nur eine vage Vorstellung, kein präzises Bild von der Geschichte Europas, doch es enthielt einige Körnchen Wahrheit.
Die römische Kaiserherrschaft hatte im Westen bis ins späte 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung für Stabilität und Wohlstand gesorgt. Im Osten lebte das römische Imperium bis 1453 weiter; der Kaiser herrschte von der großen Stadt Konstantinopel aus, die im Jahr 324 von Konstantin dem Großen gegründet worden war – dem ersten Kaiser, der [18] sich zum Christentum bekehrt hatte. Historiker bezeichnen diese lang währende Herrschaftsperiode als »Byzantinisches Reich«. Im Westen ging die Macht zwischen dem 5. und dem 7. Jahrhundert auf eine verwirrende Vielzahl »barbarischer« Stämme über, doch um das Jahr 500 herum errang einer dieser Stämme, der der Franken, die Herrschaft über den nordöstlichen Teil Galliens, und es entstand das Fränkische Reich (daher noch der heutige Name Frankreich). * Um 800 herum hatte ein Nachfahr dieser Franken, Karl der Große (768 – 814), ein derart umfangreiches Territorium eingenommen – das einen Großteil des heutigen Frankreichs, aber auch Teile Deutschlands, Italiens und der Niederlande umfasste –, dass er einen Anspruch auf den längst nicht mehr gebräuchlichen Titel eines Kaisers des Weströmischen Reiches erheben konnte. Karl der Große und seine Nachfolger, die Karolinger, herrschten in einer kurzen Periode wiederhergestellter Sicherheit, doch brach ihr Reich unter den Nachfolgestreitigkeiten und den wiederholten Überfällen durch Wikinger aus Skandinavien und Magyaren aus Osteuropa zusammen. Seit den 850er-Jahren war Europa wieder durch politische Zerstückelung, Kriege und Unruhen zerrissen. Die kriegerischen deutschen Könige versuchten weiterhin einen Anspruch auf den Kaisertitel aufrechtzuerhalten, und in Frankreich überlebte eine verzweifelt kraftlose Karolingerdynastie. Im 11. Jahrhundert waren Konstantin I. und Karl der Große zu Legenden geworden, und im weiteren Verlauf der europäischen Geschichte versuchte noch so mancher christliche König, ihre vermeintlichen Leistungen nachzuahmen. Unter diesen Königen befanden sich auch einige, die in den Kreuzzügen kämpfen sollten.
Zur Zeit des Fulk Nerra ließ das Abendland diese nach-karolingische Phase des Niedergangs (trotz der Vorhersagen, der Jüngste Tag werde bald anbrechen) allmählich hinter sich, doch im Blick auf politische und militärische Macht sowie auf die Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft waren die meisten Regionen noch immer hochgradig zersplittert. [19] Europa war nicht in Nationen im modernen Sinn des Wortes aufgeteilt. Die Gebiete des heutigen Deutschlands, Spaniens, Italiens und Frankreichs bestanden vielmehr aus vielen kleineren Gemeinwesen und wurden von kriegerischen Feudalherren regiert, die zum größten Teil nur durch lose Treuebande mit einem gekrönten Monarchen verbunden waren. Wie Fulk trugen diese Potentaten Titel wie dux (Herzog) oder comes (Graf), die an römische und karolingische Zeiten erinnerten, und sie entstammten der immer mächtiger werdenden Klasse von gut ausgerüsteten, halbprofessionellen Kämpfern, der neu entstandenen Militäraristokratie der Ritter.
Europa befand sich im 11. Jahrhundert zwar nicht in einem Zustand vollständiger Anarchie, doch blutige Fehden und
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