Die Kriegerin der Kelten
Mit ausgestreckten Händen ging sie langsam voran.
Schließlich ertastete sie eine Wand und wandte sich nach links, blieb mit der Schulter fest an den Felsen gepresst, während sie immer weiter ging. Dann beschrieb die Wand abermals einen Bogen, diesmal in die andere Richtung, wie die Krümmungen einer Schlange. Langsam setzte Graine einen Fuß vor den anderen, ganz zaghaft, für den Fall, dass der Boden plötzlich nach unten absinken sollte.
Mit einem Mal sah sie ein Licht, ein graues, federfeines Schimmern inmitten der totalen Finsternis. Ihre Augen labten sich regelrecht an dem schwachen Schein, wie man sich wohl auch an einem Sonnenaufgang gelabt hätte, der einen schon bald nach Mitternacht wieder mit seinem Glanz überrascht hätte. Doch Graine nahm auch die unzähligen, kleinen Einbuchtungen im Felsgestein wahr und die Glätte des Bodens, ganz so, als ob schon Hunderte von Füßen über Hunderte von Generationen hinweg genau diesen Pfad entlangmarschiert wären.
Das Schimmern lockte Graine um eine weitere, schlangenartig gewundene Kurve herum. Dann blieb sie abrupt stehen.
Tröstend strich der sanfte Wind über ihr Gesicht. Das graue Gestein hinter ihr bot ihr einen festen Halt. Vor ihr, hoch oben in der Höhlendecke, ließ ein kleiner Spalt das letzte Licht des Abends herein. Rechts und links dieses Spalts neigte die Höhlendecke sich wie ein riesiger Spitzbogen immer tiefer hinab, und der Fels war an diesen Seitenflügeln nicht grau, sondern von der Farbe von spätwinterlichem Eis. Helle Streifen durchzogen das Eis, überall klafften Risse, und es war ganz und gar nicht schön anzusehen. Und dennoch waren die Ränder dieser Spalten scharf wie Messerklingen, und wie Millionen von Facetten nahmen sie das schwache Licht in sich auf, warfen es geradewegs wieder zurück und auf den Boden und hinaus in die hoch aufragende Höhle und an die gegenüberliegende Wand, auf dass der graue Fels sich in einen monochromen Regenbogen verwandelte.
Endlich herrschte genügend Helligkeit, um das ganze Ausmaß dieser weiteren Höhlenkammer erkennen zu können und um jenen Platz zu finden, wo einst ein Feuer oder womöglich auch ganz viele Feuer den ebenen Steinboden mit ihrer Glut verbrannt hatten und Rauchschwaden die spröde Schönheit der Höhlendecke mit ihren Streifen überzogen. Schließlich ertastete Graine so etwas wie eine Bank, einen hohen Vorsprung im Fels, kletterte hinauf und stellte fest, dass die Felswand sich um diesen Vorsprung herumwölbte wie ein Baldachin um eine Art Bett. Dort entdeckte sie die Überreste der Leiche. Einer Leiche, die bereits vor ewig langer Zeit dort niedergelegt worden sein musste, denn alles Fleisch, das einst an diesem Körper gesessen hatte, schien wie weggeschmolzen, die Haut war an den Knochen festgetrocknet, und der Torques, der sich früher so geschmeidig um den Hals dieses Menschen geschlossen hatte, war schräg hinuntergerutscht und bog den dürren Hals zur Seite. Auch das große Schwert, das schon so lange Wache gehalten hatte über diesen Toten, hatte sich nach unten geneigt und lag nun eingebettet zwischen den gebogenen Beckenknochen.
Dieser Anblick war nun endgültig zu viel für Graine, an einem Tag, an dem es ohnehin bereits so viel Leid auszuhalten galt wie an keinem anderen. Sie langte nach den Endschlaufen des Torques, um ihn wieder gerade zu rücken und damit die Leiche in etwas würdigerer Ruhe auf ihrer letzten Lagerstatt liegen könnte.
»Graine?«
Diese Stimme entstammte ganz eindeutig nicht dem Seufzen des Windes. Hastig drehte Graine sich um, beinahe so, als ob man sie bei irgendetwas Verbotenem erwischt hätte. Dann hielt sie abermals inne, stand abermals starr und wie festgewurzelt einfach nur da.
Ihre Mutter war gekommen.
Graines Welt zerbrach in tausend Stücke, fügte sich dann aber ebenso schnell wieder zu einem makellosen Bild zusammen. Schwer sackte Breacas Tochter gegen den Stein zurück. In heißen Wogen schlug die Erleichterung über ihr zusammen, ließ Graine erzittern, ließ sie schwitzen, bis ein glitschiger Film ihre Haut überzog und die Haarwurzeln an ihrem Schädel sich aufrichteten. »Dann geht es dir also wieder besser«, entgegnete sie, doch ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Breaca breitete die Arme aus, und müde ließ Graine sich hineinsinken. Endlich war alles wieder, wie es gewesen war, ehe der Prokurator mit seinen Veteranen gekommen war und so unendlich viel Leid über Graine und die ihren gebracht hatte. Hier war
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