Die Kunst des Träumens
los?« sagte die Frau, wieder ins Spanische wechselnd. »Sage mir nicht, daß du deine Entscheidung bereust. Wir sind Zauberer. Es ist zu spät, deinen Entschluß zu ändern. Du hast doch keine Angst, nicht wahr?«
Ich war schon wieder mehr als verängstigt, aber hätte ich mich festlegen sollen, wovor ich eigentlich Angst hatte, ich hätte es nicht gewußt. Ganz bestimmt hatte ich keine Angst davor, mit jener, die dem Tode trotzte, in einem anderen Traum zu sein - oder davor, meinen Verstand oder gar mein Leben zu verlieren. Hatte ich Angst vor dem Bösen? fragte ich mich. Doch die Vorstellung des Bösen hielt genauerer Prüfung nicht stand. Infolge all dieser Jahre auf dem Weg der Zauberer wußte ich ohne jeden Zweifel, daß es im Universum nur Energie gibt; das Böse ist nur eine Ausgeburt des menschlichen Denkens, beherrscht durch die Fixierung des Montagepunktes in seiner üblichen Position. Logischerweise gab es also nichts, wovor ich mich hätte fürchten sollen. Das wußte ich, aber ich wußte auch, daß meine wahre Schwäche in der mangelnden Beweglichkeit lag, meinen Montagepunkt augenblicklich in der Position, in die er verschoben wurde, zu fixieren. Der Kontakt mit der. die dem Tode trotzt, verschob meinen Montagepunkt in gewaltigem Maß, und ich hatte nicht die Kraft, diesem Schub standzuhalten. Ergebnis war ein Pseudo-Gefühl der Angst, ich könnte vielleicht nicht wieder aufwachen. »Kein Problem«, sagte ich. »Kommen Sie, setzen wir unseren Traum-Spaziergang fort.«
Sie hakte sich bei mir unter, und schweigend kamen wir in den Park. Es war keineswegs ein gezwungenes Schweigen. Meine Gedanken aber rasten im Kreis. Wie seltsam, dachte ich. Vor kurzem erst war ich mit Don Juan vom Park zur Kirche gelaufen, beherrscht von schrecklicher, aber normaler Angst. Jetzt lief ich zurück von der Kirche zum Park - mit dem Gegenstand dieser meiner Angst, und ich war furchtsamer denn je - aber auf eine andere, reifere, tödlichere Art.
Um meine Befürchtungen abzuwehren, schaute ich mich um. Falls dies ein Traum war, wie ich vermutete, dann gab es eine Möglichkeit, dies zu beweisen oder zu widerlegen. Ich deutete mit dem Finger auf die Häuser, auf die Kirche, auf das Straßenpflaster. Ich deutete auf Menschen, ich deutete auf alles. Tollkühn griff ich sogar ein paar Mal mit der Hand nach Menschen, die ich damit ziemlich zu erschrecken schien. Ich spürte ihre feste Masse. Sie waren so wirklich wie alles, was für mich Wirklichkeit bedeutet, nur daß sie keine Energie erzeugten. Nichts in dieser Stadt erzeugte Energie. Alles wirkte real und normal, und doch war es ein Traum. Ich drehte mich um zu der Frau, die noch immer meinen Arm festhielt, und befragte sie deshalb.
»Wir träumen«, sagte sie mit ihrer heiseren Stimme und kicherte.
»Aber wie können Menschen und Dinge um uns her so wirklich sein, so dreidimensional?«
»Das Geheimnis des Beabsichtigens in der zweiten Aufmerksamkeit!« rief sie ehrfürchtig. »Diese Leute dort draußen sind so wirklich, daß sie sogar Gedanken haben.«
Dies war für mich der letzte Streich. Ich wollte nichts weiter fragen. Ich wollte mich diesem Traum überlassen. Ein kräftiger Ruck an meinem Arm brachte mich wieder zurück ins Jetzt. Wir waren auf der Plaza angekommen. Die Frau war stehengeblieben und zog mich neben sich auf eine Bank. Ich wußte gleich, als ich mich setzte und die Bank nicht unter mir fühlte, daß ich in Schwierigkeiten war. Ich begann herumzuwirbeln. Mir war, als zöge es mich empor. Ich warf noch einen letzten, flüchtigen Blick auf den Park, als sähe ich ihn von weit oben. »Das ist es!« schrie ich. Ich dachte, ich sterbe. Die wirbelnde Aufwärtsbewegung verwandelte sich in einen taumelnden Sturz in die Dunkelheit.
13. Auf den Flügeln der Absicht fliegen
»Strenge dich an, Nagual«, beschwor mich die Stimme einer Frau. »Laß dich nicht fallen. Tauche auf, tauche auf. Setze deine Traum-Techniken ein!«
Mein Verstand begann zu arbeiten. Mir war, als sei es eine Englisch sprechende Stimme, und ich glaubte auch, daß ich, sollte ich meine Traum-Techniken einsetzen, einen Ausgangspunkt finden musste, um meine Energie zu aktivieren.
»Mach die Augen auf«, sagte die Stimme. »Mach sie auf, jetzt. Nutze das erste, was du siehst, als Ausgangspunkt.« Mit größter Anstrengung schlug ich die Augen auf. Ich sah Bäume und blauen Himmel. Es war Tag. Ein verschwommenes Gesicht blickte mich an. Aber ich konnte meinen Blick nicht zentrieren. Ich
Weitere Kostenlose Bücher