Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kunst des Träumens

Die Kunst des Träumens

Titel: Die Kunst des Träumens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
Vom Netzwerk:
sehen.«
    Sie hatte völlig recht. Dies war die Methode. Kaum deutete ich mit dem Finger auf sie, als sie zu einer Energieblase wurde. Einer sehr eigenartigen Energieblase, darf ich hinzufügen. Ihre energetische Gestalt war genau so, wie Don Juan sie mir beschrieben hatte: sie sah aus wie eine riesige Muschel, eingerollt längs dem Spalt in ihrer Mitte.
    »Ich bin das einzige Energie erzeugende Wesen in diesem Traum«, sagte sie. »Es wäre also richtiger für dich, alles andere nur zu beobachten.«
    In diesem Moment dämmerte mir zum erstenmal die ganze Ungeheuerlichkeit von Don Juans Streich. Er war also wirklich imstande gewesen, mich im Traum brüllen zu lassen, nur damit ich in der Traumstille dieser dem Tode Trotzenden losbrüllen würde. Ich fand den Trick so witzig, daß ich vor Lachen beinah erstickte.
    Es gab nur zwei Straßen, die sich kreuzten: an jeder gab es drei Häuserblocks. Wir schritten beide Straßen in ganzer Länge ab. nicht einmal, sondern viermal. Ich sah mir alles an und lauschte mit meiner Traum-Aufmerksamkeit auf irgendwelche Geräusche. Es gab nur sehr wenige - ein paar bellende Hunde in der Ferne oder Menschen, die im Vorbeigehen flüsterten. Die bellenden Hunde brachten in mir eine ungeahnte und tiefe Sehnsucht hervor. Ich musste stehen bleiben. Ich suchte Linderung, indem ich mich mit der Schulter an eine Mauer lehnte. Der Kontakt mit der Mauer war schockierend für mich, nicht weil diese Mauer so ungewöhnlich gewesen wäre, sondern weil das. woran ich mich lehnte, eine stabile Mauer war. wie jede andere Mauer auch, die ich je berührt hatte. Ich betastete sie mit meiner freien Hand. Ich strich mit den Fingern über ihre rauhe Oberfläche. Es war wirklich eine Mauer!
    Ihre überwältigende Wirklichkeit machte meiner Sehnsucht sofort ein Ende und erneuerte mein Interesse, alles zu beobachten.

Insbesondere suchte ich nach Merkmalen, die mit jener Stadt - in unserer Zeit - in Verbindung zu bringen wären. Doch wie aufmerksam ich auch schaute, es war vergeblich. Da war eine Plaza in dieser Stadt, aber sie war vor der Kirche, gegenüber dem Portikus.
    Im Mondlicht waren die Berge rund um die Stadt deutlich zu sehen und beinah wiederzuerkennen. Ich versuchte mich zu orientieren und sah nach dem Mond und den Sternen, als befände ich mich in der geläufigen Realität des Alltags. Es war ein abnehmender Mond, vielleicht einen Tag nach Vollmond. Er stand hoch über dem Horizont. Es mochte zwischen acht und neun Uhr abends sein. Ich sah Orion, rechts vom Mond. Seine zwei Hauptsterne, Beteigeuze und Rigel, standen in waagrecht gerader Linie mit dem Mond. Ich schätzte, es mochte Anfang Dezember sein. In unserer Zeit war es Mai. Im Mai ist Orion um diese Zeit nirgends zu sehen. Ich starrte in den Mond, solange ich konnte. Nichts veränderte sich. Es war tatsächlich der Mond, soweit ich feststellen konnte. Die zeitliche Disparität aber beunruhigte mich sehr.
    Während ich noch einmal den südlichen Horizont absuchte, glaubte ich jenen glockenförmigen Berggipfel zu erkennen, der von Don Juans Patio zu sehen war. Nun versuchte ich mir vorzustellen, wo sein Haus stehen mochte. Einen Augenblick meinte ich es gefunden zu haben. Ich war so gebannt, daß ich meine Hand dem Griff der Frau entwand. Sofort überfiel mich ungeheure Angst. Ich wußte, ich musste zur Kirche zurückkehren, denn falls ich es nicht tat, würde ich auf der Stelle tot umfallen. Ich drehte mich um und rannte los, zur Kirche. Die Frau packte rasch meine Hand und folgte mir.
    Während wir uns im Laufschritt der Kirche näherten, wurde mir bewußt, daß die Stadt in diesem Traum hinter der Kirche gelegen war. Hätte ich dies berücksichtigt, dann wäre vielleicht eine Orientierung möglich gewesen. Jetzt aber hatte ich keine Traum- Aufmerksamkeit mehr. Was mir davon geblieben war, konzentrierte ich auf die Architektur und die ornamentalen Details an der Rückseite der Kirche. Diesen Teil des Gebäudes hatte ich in der Alltagswelt nie gesehen, und falls ich mir sein Aussehen ins Gedächtnis einprägen konnte, so glaubte ich, könnte ich es später mit den Details der realen Kirche vergleichen.
    So war mein Plan, den ich mir aus augenblicklicher Eingebung zurechtlegte. Doch irgend etwas in mir spottete über meinen Versuch der Objektivierung. Während meiner ganzen Lehrzeit hatte mich ein Bedürfnis nach objektiven Tatsachen beherrscht, was mich stets zwang, alles in Don Juans Welt zu überprüfen und nochmals zu überprüfen. Aber

Weitere Kostenlose Bücher