Die Kunst des Träumens
überhaupt einen solchen Zustand gab.
Eine weitere große Entdeckung der alten Zauberer war, so erklärte mir Don Juan, daß der Montagepunkt sich im Schlaf sehr leicht verschiebt. Dies führte sie zu einer weiteren Erkenntnis: daß die Träume durchaus etwas mit dieser Verschiebung zu tun haben. Die alten Zauberer sahen: je größer die Verschiebung, desto ungewöhnlicher der Traum - und umgekehrt; je ungewöhnlicher der Traum, desto größer die Verschiebung. Diese Beobachtung veranlaßte sie, wie Don Juan sagte, raffinierte Techniken zu ersinnen, um eine Verschiebung des Montagepunktes zu erzwingen. So etwa nahmen sie Pflanzen ein, die veränderte Bewußtseinszustände hervorrufen können; sie setzten sich Zuständen wie Hunger, Erschöpfung oder Streß aus; und sie suchten vor allem ihre Träume zu kontrollieren. Auf diese Weise, und vielleicht ganz unwissentlich, begründeten sie die Kunst des Träumens. Eines Tages, während wir um die Plaza der Stadt Oaxaca schlenderten, gab mir Don Juan die klarste Definition des Träumens. vom Standpunkt des Zauberers.
»Die Zauberer betrachten das Träumen als eine hochentwickelte Kunst«, sagte er. »Nämlich die Kunst, den Montagepunkt absichtlich aus seiner üblichen Position zu verschieben, um den Bereich dessen zu steigern und zu erweitern, was der Mensch wahrnehmen kann.«
Er sagte mir, daß die alten Zauberer die Kunst des Träumens auf fünf Bedingungen gründeten, die sie im Energiefluß menschlicher Wesen sahen. Sie sahen, erstens, daß nur je ne Energiefasern, die direkt durch den Montagepunkt hindurchgehen, zu kohärenten Wahrnehmungen zusammengesetzt werden können.
Sie sahen, zweitens, daß - wenn der Montagepunkt in eine andere Position verschoben wird, und sei die Verschiebung noch so gering - andere und ungekannte Energiefasern durch ihn hindurchgehen, die das Bewusstsein aktivieren: dadurch kommt es zu einer Zusammensetzung dieser ungekannten Energiefelder zu einer klaren, kohärenten Wahrnehmung.
Sie sahen, drittens, daß der Montagepunkt - bei gewöhnlichen Träumen - sich leicht von selbst in eine andere Position an der Oberfläche oder im Innern der leuchtenden Eigestalt verschiebt.
Sie sahen, viertens, daß der Montagepunkt veranlaßt werden kann, sich in Positionen außerhalb der leuchtenden Eigestalt zu bewegen: in die Energiefasern des gesamten Universums. Und sie sahen, fünftens, daß es durch Disziplin möglich ist. im Schlaf, bei gewöhnlichen Träumen, eine systematische Verschiebung des Montagepunktes zu erreichen und einzuüben.
2. Die erste Pforte des Träumens
Der ersten Lektion in der Kunst des Träumens schickte Don Juan die Worte voraus, daß ich mir die zweite Aufmerksamkeit als Progression denken müsse: anfangs nur eine Idee, die uns eher kurios denn als wirkliche Möglichkeit erscheint, wird sie für uns zur körperlichen Empfindung, und schließlich zu einem Daseinszustand, zur praktischen Anwendung einer überlegenen Macht, die uns Welten jenseits unserer kühnsten Phantasie eröffnet. Zwei Möglichkeiten haben die Zauberer, um die Zauberei zu erklären. Zum einen können sie metaphorisch von einer Welt magischer Dimensionen sprechen; zum anderen können sie ihr Anliegen in abstrakten Begriffen der Zauberei erklären. Ich bevorzuge stets die letztere, obwohl keine der beiden Möglichkeiten das rationale Denken eines im Sinne westlicher Kultur gebildeten Menschen befriedigen kann.
Wenn Don Juan die zweite Aufmerksamkeit metaphorisch im Sinne einer Progression beschrieb, so deshalb, weil diese - als Nebenprodukt der Verschiebung des Montagepunktes- sich nicht von selbst einstellt, sozusagen natürlich, sondern beabsichtigt werden muß. Dabei wird sie anfangs als Vorstellung intendiert, und schließlich als eine stetige, bewußt kontrollierte Verschiebung des Montagepunktes.
»Ich werde dich also den ersten Schritt zur Kraft lehren«, sagte Don Juan am Anfang seiner Unterweisung in der Kunst des Träumens. »Ich werde dich lehren, das Träumen zu arrangieren.«
»Was bedeutet es, das Träumen zu arrangieren?«
»Das Träumen zu arrangieren bedeutet, eine exakte und praktische Kontrolle über die allgemeine Situation eines Traumes zu haben. Du träumst zum Beispiel, du bist in deinem Hörsaal an der Universität. Das Träumen zu arrangieren bedeutet nun, daß du diesen Traum nicht in einen anderen abgleiten lässt. Du springst also nicht etwa vom Hörsaal in die Berge. Mit anderen Worten, du kontrollierst den Anblick
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