Die Kunst des Träumens
fragte ich. Don Juan schüttelte verwundert, sogar leicht missbilligend den Kopf. »Angesichts des unvorstellbaren Unbekannten dort draußen«, sagte er, mit dem Arm in die Ferne deutend, »gibt man sich nicht mit kleinlichen Lügen ab. Kleinliche Lügen sind nur etwas für Leute, die niemals gesehen haben, was dort draußen ist und auf sie wartet.«
»Was wartet dort draußen auf uns, Don Juan?« Seine Antwort, eine scheinbar harmlose Formulierung, war beängstigender für mich, als hätte er das Grauenhafteste beschrieben.
»Etwas völlig Unpersönliches«, sagte er.
Vielleicht hatte er bemerkt, daß ich die Fassung verlor. So versetzte er mich in einen anderen Bewusstseinszustand, um meine Furcht zu vertreiben.
Ein paar Monate später nahmen meine Traumübungen eine sonderbare Wendung. Es begann damit, daß ich in meinen Träumen auf einmal Antworten auf Fragen erhielt, die ich Don Juan hatte stellen wollen. Das Bemerkenswerteste an dieser Entwicklung war, daß sie bald auch auf meine wachen Stunden Übergriff. Und eines Tages, während ich am Schreibtisch saß, erhielt ich Antwort auf eine unausgesprochene Frage nach der Realität anorganischer Wesen. So oft hatte ich anorganische Wesen im Traum gesehen, daß ich sie allmählich für ganz real hielt. Ich erinnerte mich, daß ich in einem Zustand halbnormaler Bewußtheit, in der Wüste von Sonora, eines von ihnen sogar körperlich berührt hatte. Und in meinen Träumen hatte es immer wieder Ausblicke auf Welten gegeben, die wohl kaum, so überlegte ich, Produkte meiner eigenen mentalen Prozesse sein konnten. Ich wollte Don Juan eine präzise Frage vorlegen, und so formulierte ich mein Problem folgendermaßen: Wenn man akzeptieren will, daß die anorganischen Wesen ebenso real sind wie Menschen - wo befindet sich in der physikalischen Realität des Universums dann die Sphäre, in der sie existieren?
Nachdem ich mir diese Frage im Kopf zurechtgelegt hatte, hörte ich ein merkwürdiges Gelächter, ähnlich wie ich es an jenem Tag hörte, als ich mit dem anorganischen Wesen rang. Dann antwortete mir die Stimme eines Mannes: »Diese Sphäre existiert in einer bestimmten Position des Montagepunktes«, sagte sie. »Ähnlich wie deine Welt in der gewohnten Position des Montagepunktes existiert.«
Ich hatte nicht im Sinn, einen Dialog mit einer körperlosen Stimme anzufangen, darum sprang ich auf und rannte aus dem Haus. Ich glaubte, den Verstand zu verlieren: eine Sorge mehr zu meinem Sorgenbündel. Die Stimme war so klar und so voller Autorität gewesen, daß sie mich nicht nur faszinierte, sondern auch erschreckte. Voll Bangen wartete ich auf weitere Überfälle dieser Stimme, doch der Vorgang sollte sich nie wiederholen. Bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, holte ich mir Rat bei Don Juan.
Er schien nicht im mindesten beeindruckt. »Du mußt endlich begreifen, daß solche Dinge im Leben eines Zauberers ganz normal sind«, sagte er. »Du wirst keineswegs verrückt. Du hast lediglich die Stimme des Traum-Botschafters gehört. Beim Durchschreiten der ersten und zweiten Pforte des Träumens erreichen die Träumer einen Schwellenwert an Energie und beginnen Dinge zu sehen oder Stimmen zu hören. Nicht eigentlich mehrere Stimmen, sondern eine einzelne Stimme. Die Zauberer nennen sie die Stimme des Traum-Botschafters.«
»Was ist der Traum- Botschafter?«
»Fremde Energie, die Festigkeit angenommen hat. Fremde Energie, die den Träumern angeblich hilft, indem sie ihnen Dinge offenbart. Das Fragwürdige an der Stimme des Traumbotschafters ist, daß sie nur verraten kann, was die Zauberer bereits wissen oder wissen sollten, falls sie ihren Namen verdienen.«
»Mit deiner Beschreibung, daß es festgewordene fremde Energie ist. kann ich nichts anfangen, Don Juan. Was für eine Energie ist das: eine wohltätige, schädliche, richtige, falsche - oder was?«
»Es ist einfach fremde Energie, wie ich sagte. Eine unpersönliche Kraft, die wir zu einer persönlichen machen, weil sie eine Stimme hat. Manche Zauberer schwören darauf. Sie sehen sie sogar. Oder sie hören sie, wie du sie gehört hast, einfach als männliche oder weibliche Stimme. Und diese Stimme sagt ihnen Dinge, die diese Leute oft als geheiligte Ratschläge auffassen.«
»Warum hören manche von uns diese Energie als Stimme?«
»Wir sehen oder hören sie, weil wir unseren Montagepunkt in einer bestimmten, neuen Position fixiert halten; je stärker diese Fixierung ist, desto eindringlicher erleben wir
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