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Die Kunst des Träumens

Die Kunst des Träumens

Titel: Die Kunst des Träumens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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vermutete, daß die Zauberer - wegen ihrer überlegenen Disziplin - als vertrauenswürdige Arbeitnehmer gelten und von Institutionen, die immer Bedarf an solchem Personal haben, gerne beschäftigt werden. Solange niemand etwas vom Tun und Treiben der Zauberer erfahre, meinte Don Juan, lasse ihr Mangel an ideologischen Neigungen sie als vorbildliche Arbeiter erscheinen. Don Juan fuhr fort mit seiner Geschichte und sagte, daß eines Tages, während Sebastian seinen Küsterpflichten nachging, ein sonderbarer Mann in die Kirche gekommen sei. ein alter Indianer, der krank zu sein schien. Mit schwacher Stimme erzählte er Sebastian, er brauche Hilfe. Der Nagual glaubte, der Indianer wolle den Priester der Pfarrgemeinde sprechen, aber der Mann wandte sich mit großem Nachdruck an den Nagual. Streng und unverblümt sagte er ihm. er wisse, daß Sebastian nicht nur ein Zauberer, sondern auch ein Nagual sei.
    Sebastian, sehr beunruhigt durch diese plötzliche Wendung der Dinge, zog den Indianer beiseite und verlangte eine Entschuldigung. Der Mann erwiderte, er habe keineswegs die Absicht, sich zu entschuldigen, sondern erwarte besondere Hilfe. Er brauche, sagte er, die Energie des Nagual. um sein Leben zu verlängern, das - wie er Sebastian beteuerte - schon Jahrtausende währte, aber sich damals zum Ende neigte.
    Sebastian, ein sehr intelligenter Mann, war nicht bereit, sich solchen Unsinn anzuhören, und bat den Indianer, mit seinen Spaßen aufzuhören. Der alte Mann wurde wütend und drohte Sebastian an. ihn und seine Gruppe bei der kirchlichen Obrigkeit anzuzeigen, wenn er seiner Forderung nicht nachkomme. Dies geschah zu einer Zeit, erinnerte mich Don Juan, als die kirchlichen Behörden mit brutaler Härte die häretischen Bräuche und Kulte bei den Indianern der Neuen Welt systematisch auszurotten suchten. Die Drohung des Mannes war also nicht auf die leichte Schulter zu nehmen; der Nagual und seine Gruppe waren tatsächlich in ernster Gefahr. Sebastian fragte den Indianer, auf welche Weise er ihm Energie geben könne. Der Mann erklärte, daß die Naguals durch ihre Disziplin eine besondere Energie ansammeln, die sie in ihrem Körper speichern und die er schmerzlos aus Sebastians Energie- Zentrum. am Nabel gelegen, abziehen werde. Als Gegenleistung würde Sebastian nicht nur die Chance erhalten, seine Aktivitäten fortzusetzen, sondern zusätzlich auch ein Geschenk der Kraft.
    Die Erkenntnis, von dem alten Indianer manipuliert zu werden, gefiel dem Nagual überhaupt nicht, aber der Mann war unerbittlich und ließ ihm keinen anderen Weg, als sein Ansinnen zu erfüllen. Don Juan versicherte mir, daß der alte Indianer mit seinen Behauptungen keineswegs übertrieben habe. Er war. wie sich herausstellte, einer der Zauberer aus der Vorzeit, einer von denen, die bekannt sind als »jene, die dem Tode trotzen«. Anscheinend hatte er bis in die Gegenwart überlebt, indem er seinen Montagepunkt auf eine nur ihm bekannte Art manipulierte. Was dann zwischen Sebastian und dem Mann geschah, sagte Don Juan, wurde später zur Grundlage für einen Vertrag, an den sich alle sechs Naguals. die Sebastian nachfolgten, gebunden fühlten. Jener, der dem Tode trotzte, hielt sein Wort: als Gegenleistung für die Energie, die er von jedem dieser Männer erhielt, machte er dem Spender ein Geschenk, eine Gabe der Kraft. Auch Sebastian hatte solch eine Gabe akzeptieren müssen, wenngleich widerstrebend; er stand mit dem Rücken zur Wand und hatte keine andere Wahl. Alle anderen Naguals, die ihm folgten, akzeptierten aber froh und stolz ihr Geschenk.
    Damit beendete Don Juan seine Erzählung. Der dem Tode Trotzende, sagte er, sei dann als der Mieter bekannt geworden. Und mehr als zweihundert Jahre lang hätten die Naguals von Don Juans Linie diese bindende Vereinbarung eingehalten und eine symbiotische Beziehung gepflegt, die schließlich Entwicklung und Ziel ihrer Linie verändern sollte.
    Don Juan war nicht bereit, diese Geschichte weiter zu erläutern; doch er vermittelte mir einen merkwürdigen Eindruck von Wahrheit, der beunruhigender war, als ich gedacht hätte. »Wie konnte er so lange leben?« fragte ich. »Das weiß niemand«, erwiderte Don Juan. »Seit Generationen wissen wir von ihm nur, was er uns erzählt. Der dem Tode trotzt ist derjenige, den ich über die alten Zauberer befragte, und er sagte mir, daß sie vor dreitausend Jahren den Gipfel ihrer Entwicklung überschritten hätten.«
    »Woher weißt du, daß er die Wahrheit sprach?«

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