Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Erforschung unserer Biologie ist eine wichtige Quelle für die Erkenntnis unserer Fähigkeit, »gut« zu sein. Aber sie ist nur eine unter anderen. Warum auch sollten Tiere wie wir, die widersprüchliche Absichten haben, weinen können und Schadenfreude empfinden, sich in ihrer Entwicklung streng an mathematische Theorien und präzise kalkulierte Modelle ihrer Natur und Moral halten? Gerade der irrationale Gebrauch, den wir von unserer Fähigkeit zur Vernunft machen, ist der Grund dafür, dass wir etwas sehr Besonderes sind: Jeder von uns fühlt, denkt und handelt verschieden.
Was in diesem Buch zum Thema Moral versammelt ist, verteilt sich in der Welt der Universitäten auf zahlreiche Fächer und Fakultäten. Von der Soziobiologie zur transzendentalphilosophischen Moralbegründung, vom englischen Empirismus zur Kognitionsforschung, von Aristoteles zur Verhaltensökonomik, von der Primatenforschung zur Ethnologie, von der Anthropologie zur Soziolinguistik und von der Hirnforschung zur Sozialpsychologie.
Die meisten Wissenschaftler dieser Fächer nehmen die Forschungen aus anderen Bereichen eher selten wahr. In dieser Praxis zerfällt die Moral des Menschen in Theorieschulen und Denkrichtungen, fachliche Domänen, Teilaspekte und Perspektiven. Einen Reiseführer für die Moral zu schreiben wird dadurch nicht leicht. Der Pfad durch das Dickicht der Fakultäten ist oft nur mühselig zu schlagen. Auch bleibt manche Sehenswürdigkeit der Wissenschaft zwangsläufig unberücksichtigt und die eine oder andere klare Quelle ungenutzt.
Der erste Teil des Buches widmet sich dem Wesen und den Grundregeln unseres moralischen Verhaltens. Ist der Mensch von Natur aus gut, böse oder gar nichts? Die Arbeit an einem realistischen Menschenbild ist noch lange nicht beendet. Ich möchte versuchen, einige wichtige alte Gedanken der Philosophie mit vielen neuen und ganz neuen Forschungsergebnissen zu verknüpfen. Wird der Mensch in der Tiefe seines Herzens getrieben von Egoismus, Gier, Machtinstinkt und Eigeninteresse, wie in Zeiten der Finanzkrise (und nicht nur in diesen) allerorten zu hören und zu lesen ist? Und sind seine Instinkte, die viel zitierten animal spirits, nur etwas Schlechtes und Verderbliches? Oder ist doch irgendetwas am Menschen edel, hilfreich und gut, wie Goethe einforderte? Und wenn ja, was? Und unter welchen Bedingungen tritt es zutage?
Von Platons Idee des Guten geht es zunächst zu den klaren Weltanschauungen. Zu den Ideen, der Mensch könnte von Natur aus gut sein oder schlecht. Aus Studien an Affen und Menschenaffen
lernen wir, wie stark der Sinn für Kooperation in uns verankert ist. Aber auch, warum wir uns oft so unberechenbar benehmen. Unser Mitgefühl hat ebenso biologische Wurzeln wie unser Gefühl, unfair behandelt zu werden. Moralisch zu sein ist ein ganz normales menschliches Bedürfnis - schon deshalb, weil es sich zumeist ziemlich gut anfühlt, Gutes zu tun. Ein unmoralisches Leben hingegen, das uns selbst als solches bewusst ist, wird uns kaum dauerhaft glücklich machen. Denn der Mensch ist das einzige Lebewesen, das seine Taten vor sich selbst rechtfertigt. Und die Mittel der Rechtfertigung nennt man Gründe. Das Universum unserer Moral besteht nicht aus Genen oder Interessen, sondern aus Gründen.
So weit, so schön. Doch warum läuft so vieles schief in der Welt, wenn wir fast alle immer das Gute wollen? Unsere Suche nach Gründen, unsere Abwägungen und Rechtfertigungen machen uns nicht unbedingt zu besseren Tieren oder Menschen. Als gefährliche Mitgift rüstet sie uns zugleich mit kaum kontrollierbaren Waffen aus, die wir gegen uns selbst einsetzen wie gegen andere. Warum sonst sind wir fast immer im Recht? Warum haben wir so selten Schuld? Wie schaffen wir es, unsere guten Vorsätze zu vertagen und zu verdrängen?
Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit diesen Tücken: mit dem Unterschied zwischen der Psychologie unseres Selbstanspruchs und der Psychologie unseres alltäglichen Verhaltens. Mit dem Widerspruch zwischen dem Programm und der Ausführung der Moral.
Unser Dilemma ist nicht schwer zu benennen: Auf der einen Seite tragen wir in uns das uralte Erbe unserer moralischen Instinkte. Häufig weisen sie uns beim Handeln in unserer modernen Welt den richtigen Weg; häufig aber auch nicht. Auf der anderen Seite rettet uns die Vernunft nicht unbedingt aus dieser Misere. Je länger der Weg wird zwischen unseren sozialen Instinkten und unserem Denken, unserem Denken und unserem
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