Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
allem eine Sagenfigur. So wie es keine Schriftzeugnisse aus der Feder von Jesus gibt, so gibt es auch keine von Sokrates. Was immer wir wissen, wissen wir aus den wenigen Schriftstücken seiner Gegner und aus den umfangreichen Elogen seiner Anhänger und Bewunderer. Wie bei Jesus, so lässt sich auch bei Sokrates vermuten, dass er tatsächlich gelebt hat. Und auf einige wenige Fans hatte er eine ausgesprochen nachhaltige Wirkung.
Der begeistertste dieser Enthusiasten aber war Platon. Hätte sich der 20-Jährige dem alten Herrn nicht angeschlossen, wer weiß, was von ihm geblieben wäre. Platon ist Sokrates’ Evangelist. Er macht ihn zum Superstar der antiken Welt, zu einem Universalgenie der Logik und der Vernunft. Sokrates weiß, was den Menschen im Innersten zusammenhält. Er ist der einzige Kenner der Weltformel.
Die Begegnung mit Sokrates hinterlässt Spuren. Binnen kurzer Zeit gibt Platon seine politischen Ambitionen auf. Er will nichts mehr werden, jedenfalls nichts, was in den Augen der Gesellschaft viel zählt. Sokrates öffnet dem jungen Mann die Augen für die Verlogenheit und Korruption in der Gesellschaft, für Lug und Trug und die Selbstsüchtigkeit der Herrschenden. Die beste Demokratie wird wertlos, wenn das gesamte politische System
verrottet ist und nur noch aus egoistischen Cliquen besteht, aus Seilschaften, Privilegien und Willkür.
Im Jahr 399 vor Christus, so scheint es, haben die Regierenden in Athen die Faxen dicke. Sie zerren Sokrates vor Gericht und machen ihm den Prozess. Das Todesurteil ist schnell gefällt, der Tatbestand offensichtlich. Sokrates, so heißt es, »verderbe die Jugend« - aus Sicht der herrschenden Oligarchen ein durchaus berechtigter Vorwurf. 430 Jahre später wird die römischjüdische Obrigkeit in Jerusalem den Wanderprediger Jesus aus ähnlichen Gründen zum Tode verurteilen: wegen Nestbeschmutzung. In beiden Fällen belegt vor allem der letzte Prozess, dass diese Menschen tatsächlich existierten. Und gemeinsam sind sie, Sokrates und Jesus, die Großväter der abendländischen Kultur.
Der Tod des Sokrates hält die Entwicklung nicht auf. Er schafft nur einen Märtyrer. Und nun schlägt Platons Stunde. Er setzt das Projekt seines Lehrmeisters fort, allerdings mit ganz anderen finanziellen Mitteln. Zwölf Jahre nach Sokrates’ Tod kauft er ein Grundstück und eröffnet dort eine Schule - die Akademie. Die Einrichtung ist ohne Beispiel. Unentgeltlich haben junge Männer die Chance, für mehrere Jahre in einer Art philosophischer Kommune zu leben. Der Lehrplan umfasst die Fächer Mathematik, Astronomie, Zoologie, Botanik, Logik, Rhetorik, Politik und Ethik. Am Ende, so wünscht es sich Platon, werden hochgebildete Männer die Schule verlassen. Sie sollen die Welt besser machen. Feingeistige Intellektuelle und politische Kader sollen sie sein, von allen falschen persönlichen Antrieben befreit. Eine philosophische Heilsarmee für eine kranke Gesellschaft. Tatsächlich werden viele Absolventen in unterschiedliche Teile der Welt aufbrechen als Missionare der Akademie und Ratgeber der Mächtigen.
Die wichtigste Voraussetzung für diesen Job ist die Kenntnis des guten Lebens. Es ist die Hauptfrage, die Platon mehr interessiert als alles andere. Das ganze Denken in der Akademie ist diesem Ziel untergeordnet: das Gute zu erkennen und zu leben.
Nur dafür hinterfragen die Akademiker die überkommenen Mythen und Konventionen und kritisieren falsche Wahrheiten und Lebensentwürfe. Für Platon sind Philosophen Krisenhelfer und Scouts für Sinndefizite. Der Bedarf an solchen Männern - Frauen spielen in Platons Welt keine Rolle - ist groß. Der Niedergang der öffentlichen und der privaten Moral, die kriegerischen Wirren und die allgemeine Verwahrlosung schreien geradezu nach einer Neuordnung der Verhältnisse, einer Revolution der Seelen.
Was also ist ein gutes, ein besseres Leben? An welchem moralischen Wesen soll Athen genesen? Platons frühe Schriften verraten, wie angeregt und erbittert über die Frage diskutiert und gestritten wurde. 2 Die Suche ist allgegenwärtig. Die Gesellschaft steht auf der Kippe. Und auf den öffentlichen Plätzen der Stadt, den Foren und in den Privathäusern kreuzen vor allem jüngere Menschen rhetorisch ihre Klingen.
Man wird sich aus heutiger Sicht darüber vielleicht wundern. Denn die Frage ist nicht mehr sehr modern. Und »das Gute« scheint uns sehr viel abstrakter zu sein als den alten Griechen. Aber auch in Deutschland ist es noch gar
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