Die Kunst, nicht abzustumpfen
Erhebung lasst die Freiheit erschallen. Wenn wir Freiheit in jeder Stadt und jedem Weiler, in jedem Staat und in jeder Großstadt, erschallen lassen, dann werden wir den Anbruch des Tages beschleunigen können, an dem alle Kinder Gottes – Schwarze und Weiße, Juden und Heiden, Katholiken und Protestanten – sich die Hände reichen und die Worte des alten Negerlieds singen: ›Endlich frei! Endlich frei! Großer allmächtiger Gott, wir sind endlich frei!‹«
Diese Rede gilt als eines der wichtigsten Ereignisse der Bürgerrechtsbewegung. Auf den Filmaufnahmen der Veranstaltung (sie wird weltweit per Satellit übertragen) ist zu sehen, wie tief die Teilnehmenden emotional berührt sind. Die mobilisierende Wirkung dieser Rede erschließt sich, wenn sie vor dem Hintergrund von Walter Brueggemanns Ausführungen über den Prozess der Hoffnung verstanden wird:
Mit wenigen Sätzen gelingt es Martin Luther King, die schmerzhaften Erfahrungen der Teilnehmenden anzusprechen: ihre Erfahrungen, unterdrückt, ausgegrenzt und diskriminiert zu werden; am Rande der Gesellschaft zu stehen; ins Gefängnis gesteckt zu werden wegen gewaltfreien Protestes und, ganz aktuell, auf ihrem Weg nach Washington keine Herberge bekommen zu haben. Dies gelingt dem Redner nicht
durch wissenschaftlich-akademische Sprache (er präsentiert z. B. keine wissenschaftlichen Statistiken über Arbeitslosigkeit unter den schwarzen US-Bürgern), sondern durch poetische Sprache, welche die Menschen an ihren schmerzhaften Erinnerungen berührt.
Zusätzlich geht King weit in das kollektive Gedächtnis zurück; in mehrfacher Weise. Zunächst spricht er quasi dessen oberste ›Schicht‹ an: das kollektive Gedächtnis der US-Gesellschaft, das von den Weißen geprägt wurde. King erinnert zunächst an Präsident Abraham Lincoln und dessen Proklamation der Befreiung der Sklaven, die am 1. Januar 1863 in Kraft getreten war. Demnach sollen alle Personen, die »als Sklaven gehalten werden, fortan und für immer frei sein«. Sodann erinnert King an die rechtliche Gleichstellung der Schwarzen, die durch einen Verfassungszusatz 1868 rechtswirksam geworden war.
Noch tiefer zu den Wurzeln des US-amerikanischen Gedächtnisses geht Martin Luther King zurück, wenn er aus der ersten Strophe des Lieds »My Country, Tis of Thee« zitiert: »Mein Land, von dir, du Land der Freiheit, singe ich. Land, wo meine Väter starben, Stolz der Pilger, von allen Bergen lasst die Freiheit erschallen.« Dieses Lied hatte bis 1931 die Aufgabe einer Nationalhymne der USA; der Text von Samuel Francis Smith wurde zur Melodie von »God Save the Queen« gesungen. Das Thema »lasst die Freiheit erschallen!« wird von King am Ende seiner Rede mehrfach wiederholt, wobei er die Freiheit aller Menschen betont.
An das kollektive Gedächtnis der Schwarzen rührt der Redner, wenn er von den Fesseln und Ketten spricht, mit denen sie in die Sklaverei, ins Exil, entführt wurden. Noch eine Schicht tiefergehend, verwendet der Redner Bilder, die an das christliche Erbe rühren, das der Mehrheit der schwarzen und weißen US-Bürger gemeinsam ist: Er erinnert an die vergebliche Herbergssuche von Maria und Josef; an den langen Weg der Israeliten durch die Wüste (King verwendet hier Begriffe wie »Durst«, »lange Reise«, »Hitze«, »Oase«); und an die Ankündigung
des Propheten Jesaja 2 (die oben S. 27 zitiert wurde): »Ich will die Finsternis vor ihnen her zum Licht machen und das Höckerichte zur Ebene.« (Jesaja 42:16)
Zugleich ist Martin Luther Kings Ansprache von einer Reihe von Metaphern durchwoben, die eine radikale Veränderung – eine wirklich neue gesellschaftliche Wirklichkeit – ankündigen: Durch die Dunkelheit zum Licht; von unten nach oben; von der langen Nacht der Gefangenschaft zum Tagesanbruch; vom dunklen und trostlosen Tal der Rassentrennung zum hellen Weg der Gerechtigkeit; vom Treibsand rassischer Ungerechtigkeit zum festen Felsen der Brüderlichkeit; vom Tal der Verzweiflung zum hellen Tag der Gerechtigkeit.
Mit Hilfe dieser Bilder gehen der Redner – und die Zuhörenden mit ihm – symbolisch durch einen Prozess, der tiefenpsychologisch als Transformation bezeichnet wird: durch die Dunkelheit zum Licht, aus durchlebtem Leiden wird Leidenschaft; King spricht hier explizit von »schöpferischem Leiden«. Dieser Umwandlungsprozess ist es, der die Teilnehmenden zu energetisieren vermochte und der für den Prozess des Schöpfens von Hoffnung zentrale Bedeutung hat.
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