Die Kunst, nicht abzustumpfen
Ende ist; wenn wir »merken«, wofür Kairos, der »günstige Moment«, gekommen ist.
In den Alltag übersetzt sind dies alles Schritte aus der selbstzerstörerischen Dynamik des »Immer-mehr«: Jeder Euro, den wir sinnvoll anlegen, z. B. in einer ethisch arbeitenden Bank (wie z. B. die GLS-Bank) statt in einen Waffen-Fonds. Jeder Einkauf von saisonalen und regional hergestellten Produkten (anstelle z. B. von Joghurt, der Tausende von Kilometern kreuz und quer durch Europa gefahren wurde). Jedes Gericht, das den Verzicht auf Fleisch schmackhaft macht. Jeder Einkauf von fair gehandelten und langlebigen Produkten. Jeder Kilometer, der zu Fuß, per Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt wird. Jede Begegnung, die an Stelle eines gedankenlosen Frust-Einkaufs tritt. Viele weitere Schritte ließen sich anführen, ich will es jedoch hierbei belassen, denn im Grunde wissen wir doch alle, was zu tun ist.
Aber wie könnten sich viele solcher Schritte zu einer gesamtgesellschaftlichen, mehr noch: globalen Veränderung verbinden? Ich erinnere an die drei Phasen der Veränderung: Zunächst die »Aktionsphase«, in der eine neue Idee von wenigen Einzelpersonen oder Gruppen thematisiert wird. Gefolgt von der Phase »Öffentlichkeit«, in der diese Idee allmählich in das öffentliche Bewusstsein einzusickern beginnt. Schließlich die Phase der »Legislative«, in der das Neue politisch umgesetzt wird.
Auf dem Hintergrund dieses Modells habe ich den Eindruck, dass ganz grundlegende Fragen, die an den Kern der »Immer-mehr«-Gesellschaft gehen, gegenwärtig in die Phase der »Öffentlichkeit« getreten sind: Fragen von geradezu prophetischer Qualität, wie sie z. B. auch von Immanuel Kant aufgeworfen wurden: Was ist der Mensch? Diesen Eindruck möchte ich hier an zwei aktuellen sozialen Bewegungen festmachen – stellvertretend für die unzähligen Initiativen, Projekte und Gruppen,
die es überall gibt: in jeder Region, an jedem Ort; viel mehr, als wir uns vielleicht vorstellen (ter Horst 2009, 15).
Downshifting
Fast zeitgleich berichten zur Jahreswende 2011/2012 verschiedene Druckmedien über eine Bewegung, die sich Downshifting nennt und inzwischen auch Deutschland erreicht hat: Immer mehr Menschen haben den Wunsch »runterzuschalten«. So stellt z. B. der KulturSPIEGEL »fünf Beispiele für das Glück, das im Abspecken liegt« vor. Dazu zählt die weltweite Bewegung »transition town «, an der schon über 400 Städte und Dörfer in mehr als 30 Ländern beteiligt sind (davon 8 in Deutschland; die meisten in angelsächsischen Ländern). Dabei geht es um die Gestaltung und Aufwertung der eigenen Region: lokale Währungen und die Vermarktung eigener Produkte, das Pflanzen von Bäumen oder Begrünen öffentlicher Brachflächen (»Guerillagärtner«), die lokale Erzeugung von Energie u.v.a. (Dürr u.a. 2012).
In Publik-Forum bezieht sich der Theologe Pierre Stutz (2011, 34) auf Meister Eckarts Aussage »ledig aller Dinge«. Diese Haltung kann uns dabei helfen, die Fülle des Lebens auszukosten. Denn »durch die Gabe der Langsamkeit können wir den tieferen Sinn unseres Lebens (…) viel intensiver wahrnehmen.«
In Psychologie heute schildert Ursula Nuber (2012) das Downshifting als Wunsch nach tiefgreifender Veränderung des Lebensstils: nach Stress-Reduzierung, »Zeitwohlstand« und der Freiheit, das zu tun, was wir wirklich wollen. Statt das Geld in Frust-Einkäufen auszugeben, geht es u.a. darum, es bewusst auszugeben: für Erlebnisse, soziale Kontakte und altruistisches Verhalten, denn diese machen die Menschen zufriedener als materieller Besitz. Für den Philosophen Neil Levy (zit. in: Nuber 2012, 24) hat das Leben Sinn, »wenn es an Zielen orientiert
ist, die die Grenzen des Einzelnen überschreiten; Ziele, die wichtiger sind als die subjektiven Sorgen und Bedürfnisse des Einzelnen«, d. h., wenn das Leben am Selbst orientiert ist.
Occupy
Zugleich ereignen sich erstaunliche Protestbewegungen in vielen Teilen der Welt, etwa in Tunesien, Griechenland, Ägypten, Spanien, Libyen, Großbritannien, Syrien, Deutschland, Jemen, Russland, Jordanien, USA, um nur einige zu nennen. Diese Bewegungen werden u.a. betitelt mit Attac, Arabischer Frühling, Stuttgart 21 oder Occupy. Über letztere sagt der Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Sachs (zit. in: Diez 2011, 117): »2012 wird das Jahr von Occupy«.
Nach Einschätzung des Spiegels ist ein weltweites Gespräch in Gang gekommen über die Frage »wie wir
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