Die Kuppel des Himmels: Historischer Roman (German Edition)
Worte bedachte. Auch Michelangelo hatte den Bleigriffel sinken lassen. So weit hatte er noch nie gedacht. Eine Welt ohne den Glauben an den Allerhöchsten war ihm schier unvorstellbar – oder genauer, sie musste Dantes »Inferno« entsprechen. Er brauchte einige Zeit, um aus dem Labyrinth des Schreckens herauszufinden. Sangallo hatte sich wieder auf dem Stuhl niedergelassen. Sein rechtes Bein, das er über das linke geschlagen hatte, wippte unruhig auf und ab.
»Wenn wir nicht mehr an Gott glauben, wird es auch keine Kunst mehr geben. Der Teufel ist kein Mäzen«, sagte Michelangelo leise.
In dem langen, bedrückenden Schweigen, das nun folgte, überkam die beiden Männer ein Frösteln, als schämten sie sich, weil sie leichtfertig etwas Frevlerisches geäußert hatten. Selbst Sangallos Fuß kam in dieser unheimlichen Stille zur Ruhe. Nur einen Moment lang – aber das war ausreichend gewesen, um sie zu verstören – hatte sich ihnen eine Welt ohne Maß gezeigt. Einen Wimpernschlag lang hatten die Dämonen die Hölle verlassen und die beiden Männer ahnen lassen, in welcher Weise sie über die Menschen herfallen, Frauen vergewaltigen, Kinder erschlagen, Männer an den Hoden aufhängen würden.
Mit einem Mal sprang Michelangelo auf. Seine Augen blitzten, als er den bärtigen Freund übermütig auf den Mund küsste. Jetzt wusste er, was er zu zeichnen hatte: Das Grabmal des Papstes musste den Bund gegen die Hölle darstellen, den der Himmel mit der Erde eingegangen war. Darin bestand die Liebe – in der Treue des Bundes! Endlich war die Idee gefunden, nach der er so verzweifelt gesucht hatte. Ein strahlendes Lächeln überzog sein Gesicht. »In meinem Kopf ist das Grabmal fertig.«
»Versündige dich nicht!«
»Nein, wirklich, ich kann es genauso klar und deutlich vor mir sehen wie dich, mein Freund.«
»Willst du es mir erzählen?«
»Später, Giuliano, aber du wirst der Erste sein, der es zu sehen bekommt, mein Wort darauf.«
Sangallo sah seinen Schützling voller Bewunderung an, denn er spürte, dass Michelangelo nicht prahlte. Ein ruhiges Gefühl der Zufriedenheit hatte ihn überkommen, als er sich erhob.
»Komm mit!«, rief er, griff nach Michelangelos Arm und zog ihn mit sich. »Wärme, wir brauchen jetzt Wärme!«
Sie durchquerten den Borgo, ließen den Petersdom rechts liegen, passierten durch das Tor die Schutzmauer, die dieses Stadtviertel und den Vatikan umgab, und liefen Richtung Trastevere.
Nach einer guten halben Stunde trafen sie im Kleinstaat der Huren ein und standen vor einem hell erleuchteten dreistöckigen Gebäude, aus dem Musik und Gelächter drangen. Sie wollten das Haus gerade betreten, da stieß eine kräftige Frau einen angetrunkenen Mann auf die Straße, der ins Straucheln geriet und der Länge nach hinschlug.
»Lass dich hier nie wieder mit leerem Beutel blicken«, fauchte sie den Mann an, der sich mühsam erhob.
»Was gibt’s, Petronilla? Warst du mit ihm nicht zufrieden?«, rief Sangallo.
» Den Beutel mein ich nicht. Wenn er kein Geld hat, soll er seine Geilheit an den Kühen und Ziegen am Colosseum auslassen. Mit seinem Schwanz beeindruckt mich kein Mann mehr, nur mit seinen Münzen!«
Sangallo lachte und zog Michelangelo hinein in das berühmte Bordell der Petronilla da Pecorino.
Wirkte das Freudenhaus schon von außen wie ein Palazzo, so verschlug das Innere Michelangelo vollends die Sprache. Eine solche Pracht, einen solchen Luxus, eine solche Lässigkeit hatte er in keinem öffentlichen Haus in seiner Heimatstadt Florenz gesehen. Dieser römische Tempel der Lust erinnerte in nichts an die schäbigen Häuser, in die ihn Piero damals geführt hatte und deren räumliche Gestaltung einzig auf die Verrichtung des Aktes abgestimmt war. Hier jedoch fand er sich unversehens in einem äußerst eleganten Salon wieder. Man konnte beim besten Willen keinen anderen Eindruck gewinnen, als dass die Herren sich an diesem Ort zuallererst zu unterhalten wünschten.
Sangallo, dem Michelangelos Verblüffung nicht entgangen war, flüsterte ihm zu: »Du musst das verstehen, mein Freund. Viele Männer mit gutem Einkommen in Rom sind Priester und müssen deshalb auf eine Familie verzichten. Das ist hier eher ihr Wohnzimmer als der Umschlagplatz der käuflichen Liebe. Petronilla und ihre Kurtisanen gaukeln den Männern Privatheit vor, Erholung im Kreis von Freunden, ja sogar Familie. Im Übrigen«, fügte er mit einem vielsagenden Lächeln hinzu, »was ist eine Gesellschaft ohne Frauen,
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