Die Lagune Der Flamingos
vertraut zu machen, dass Humberto mittlerweile vielleicht verstorben war.
Doch Humberto lebte.
Viktoria erschrak, als sie ihren Mann erstmals nach so vielen Jahren auf Santa Celia wiedersah. Humberto hatte stark abgenommen. Mit der Krankheit hatte sich seine Haut unnatürlich bleigrau verfärbt. Sogar auf die Entfernung wirkte sie faltig und nasskalt. Seine Augen waren eingesunken. In dem Raum, seinem alten Zimmer, hing ein intensiver Geruch nach Lysol, der sich mit dem nach Krankheit, ungewaschenem Körper, Schweiß und abgestandenem Essen mischte. Obwohl Viktoria sich vorgenommen hatte, Humberto nichts als Gleichgültigkeit entgegenzubringen, wollte ihr das nun nicht gelingen. Er tat ihr sogar leid.
Wir waren doch einmal ein Liebespaar, fuhr es ihr durch den Kopf, ich habe ihn bewundert, weltmännisch und exotisch, wie er sich gab. Ich wollte mein Leben mit ihm verbringen.
Ohne es zu bemerken, war Viktoria Schritt um Schritt näher an das Bett herangetreten. Als Humberto nun hustend aus seinem Dämmer hochfuhr und gleich darauf eine milchig wässrige Flüssigkeit in eine bereitstehende Metallschale spie, fuhr sie wieder zurück. Eine Frau, bisher von Viktoria unbemerkt, kam heran und tauschte die Schale ruhig gegen eine neue aus, als mache sie seit Tagen nichts anderes. Humberto sank, gleich nachdem er sich übergeben hatte, in seine Kissen zurück. Er hatte Viktoria wohl bemerkt, aber es schien ihm nicht gelingen zu wollen, sie zu fokussieren.
Dann lächelte er müde. »Guten Tag, Viktoria. Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest.«
Seine Stimme war seltsam tonlos. Viktoria schauderte. Sie hatte schon von der sogenannten Vox cholerica gehört, mit der man jenen apathischen Tonfall bezeichnete, in dem die Cholerakranken sprachen.
»Und dann war ich mir auch unsicher, ob ich noch so lange leben würde. Ich habe länger ausgehalten als viele andere.«
Trotz seiner apathischen Stimme klang Humberto fast ein wenig stolz. Gleich darauf hatte er mit Muskelkrämpfen zu kämpfen, dann gelang es ihm, sie anzuschauen.
»Es tut mir leid, das alles hier ist wahrhaft kein schöner Anblick. Man hat Krämpfe, erbricht sich und scheißt sich die Eingeweide aus dem Leib. Ich sag’s ehrlich, wie es ist, Viktoria. Wenn man stirbt, sollte man ehrlich sein.«
Sie sah, wie er die Zähne aufeinanderbiss, sich erneut in Krämpfen wand, bevor sich ein entsetzlicher Gestank zwischen die Lysoldämpfe mischte. Offenbar hatte Humberto sich eingekotet. Viktoria versuchte, durch den Mund zu atmen. Die Pflegerin kam herbei, zog die Decke vom Körper des Kranken, wieder so ruhig und sicher, als hätte sie diese Bewegungen schon vielfach ausgeführt.
Viktoria drehte sich mit dem Rücken zum Bett.
So will und kann ich Humberto nicht sehen, was auch immer einmal zwischen uns war.
Als sich die Pflegerin räusperte, drehte sie sich wieder um. Jetzt erkannte sie die Frau. Es war Humbertos Kinderfrau – sie musste mittlerweile weit jenseits der achtzig sein. Viktoria berührte es zu sehen, dass sie Humberto offenbar nicht vergessen hatte, aber sie musste auch auf der Hut bleiben. Sie spürte schon jetzt deutlich, dass die Situation sie überforderte.
»Warum«, fragte sie also, »hast du mich wirklich gerufen?«
Humberto seufzte. »Nun, machen wir es kurz«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie lange ich noch lebe, und ich wollte meine Sachen gern regeln, bevor alles zu spät ist. Estella ist meine Tochter, hörst du, ich würde sie niemals verleugnen. Was auch immer ihr von mir denken mögt.«
Viktoria verkniff sich die Bemerkung, dass Humberto sich in seinem Leben bis auf wenige Ausnahmen kaum um seine Tochter gekümmert hatte. Auch jetzt fragte er nicht direkt nach ihr.
»Es gibt hier also einige Unterlagen, die ich dir gern mitgeben würde. Ich habe sie nicht geschickt, weil ich mich hier auf niemanden wirklich verlassen kann …«
»Warum der Sinneswandel?«
»Ich werde sterben, Viktoria, ich muss meinen Frieden mit Gott und der Welt machen. Reicht das nicht als Erklärung?«
»Meinst du, Gott wird auf deinen Kuhhandel eingehen?«, platzte es jetzt doch aus Viktoria heraus. Im nächsten Moment biss sie sich auf die Lippen.
Humberto schaute sie nur an. Viktoria bemerkte, dass ihn das Sprechen mehr geschwächt hatte, als erwartet.
»Wenn ich tot bin«, fuhr er nach einiger Zeit langsamer fort, »und das wird nicht mehr lange dauern, nimmst du die Ledermappe an dich, die in der Schublade dort liegt.« Er deutete vage auf
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