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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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hatte er sich doch nie Gedanken über die geistigen Fähigkeiten des Kutschers oder sonst eines Bediensteten
     gemacht. Er hatte ihnen höchstens den Mutterwitz jener zugestanden, die schon als Kind gegen den Strom schwimmen mussten,
     auf dem Leute wie er sorglos dahintrieben. Jetzt jedoch glaubte er in der Haltung des alten Harold eine Beunruhigung zu erkennen,
     die nur durch eine erstaunlich zutreffende Schlussfolgerung über sein Vorhaben hervorgerufen worden sein konnte. Aber die
     Erkenntnis von Harolds Fähigkeit zur Schlussfolgerung war nicht die einzige Entdeckung, die Andrew in den kurzen Sekunden
     machte, in denen sich ihre Blicke auf so ungewöhnliche Weise ineinander verflochten. Da war noch etwas, das Andrew bemerkte
     und nie für möglich gehalten hätte: Es war die Zuneigung, die ein Diener für seinen Herrn empfinden konnte. Während er selbst
     nichts anderes in ihnen zu sehen vermochte als mit rätselhaften Beschäftigungen durchs Haus huschende Schatten, deren Dasein
     ihm nur vorübergehend ins Bewusstsein drang, wenn er sein Glas auf einem Tablett abzustellen wünschte oder jemanden brauchte,
     der den Kamin anzündete, waren diese Geister imstande, sich um das Schicksal ihrer Herren zu sorgen, und taten das auch. Für
     Andrew waren all diese gesichtslosen Menschen – die Zimmermädchen, die von seiner Mutter wegen jeder Nichtigkeit entlassen |25| wurden; die Küchenhelferinnen, die unweigerlich von den Stallburschen geschwängert wurden, als folgten sie damit einem uralten
     Ritus; die Hausdiener, die mit vortrefflichen Empfehlungsschreiben versehen in anderen, ebenso vortrefflichen Herrenhäusern
     einen identischen Dienst antraten – Teil einer wechselnden Landschaft, mit der er sich noch nie näher befasst hatte.
    «Wie Sie wünschen, Sir», murmelte Harold.
    Andrew begriff, dass der Kutscher sich mit diesen Worten für immer von ihm verabschiedete, dass dies für den alten Mann die
     einzig denkbare Art war, ihm Lebewohl zu sagen, wenn er ihn nicht gleich umarmen wollte, was jedoch ein unkalkulierbares Wagnis
     für ihn zu sein schien, das er nicht eingehen mochte. Klopfenden Herzens sah Andrew diesen fülligen alten Mann, der fast dreimal
     so alt war wie er und dem er die Führungsrolle überlassen müsste, wenn sie auf einer einsamen Insel stranden würden, entschlossen
     den Kutschbock erklimmen, die Pferde antreiben und in den Nebel eintauchen, der sich wie Wellenschaum durch die Straßen von
     London wälzte. Verklingendes Hufgetrappel war das Letzte, was er von ihm hörte. Schon seltsam, dass es nur der Kutscher war,
     von dem er sich vor seinem Selbstmord verabschiedet hatte, und nicht seine Eltern oder sein Cousin Charles; aber das Leben
     hatte diese Launen.
     
    Dasselbe dachte Harold Barker, während er die Pferde durch Dorset Street trieb und einen Ausgang aus diesem verfluchten Viertel
     suchte, in dem ein Menschenleben keine drei Pennys wert war. Er selbst wäre jetzt wohl auch einer der Unglücklichen, die in
     diesem stinkenden Stück London zu überleben versuchten, wenn sein Vater nicht |26| alles darangesetzt hätte, ihn aus dem Elend herauszuholen und als Kutscher zu verdingen, sobald er allein auf einen Kutschbock
     klettern konnte. Ja, dieser alte Säufer hatte für ihn den Reigen der Kutscherposten eröffnet, der ihn schließlich in die Stallungen
     des vornehmen Sir William Harrington geführt hatte, in dessen Diensten sein halbes Leben dahingegangen war. Aber es waren
     ruhige Jahre gewesen, wie er zugeben musste und es auch tat, wenn er spätnachts, wenn die Herrschaften bereits schliefen und
     das Tagewerk beendet war, sein Leben überdachte. Beschauliche Jahre, in denen er eine Frau gefunden und mit ihr zwei gesunde
     und kräftige Söhne gezeugt hatte, von denen einer als Gärtner ebenfalls bei Sir William angestellt war. Das Glück, sich ein
     anderes Leben eingerichtet haben zu können als jenes, welches ihm das Schicksal seiner Meinung nach zugedacht hatte, ließ
     ihn die unglücklichen Seelen, die er hier sah, mit einer distanzierten Anteilnahme betrachten. Harold hatte öfter nach Whitechapel
     fahren müssen, als ihm lieb gewesen war, um seinen Herrn dort abzusetzen in jenem schrecklichen Herbst vor acht Jahren, als
     in einigen Nächten sogar der Himmel zu bluten schien. Was in diesen von Gott und allen Heiligen verlassenen Gassen passiert
     war, hatte er in den Zeitungen, noch deutlicher aber in den Augen seines Herrn lesen können. Jetzt wusste

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