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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Arbeiten zu suchen, die für junge Damen ihres
     Standes zur Verfügung standen. Da blieb nicht mehr, als sich als Stenotypistin in einem Büro zu verdingen oder als Krankenschwester
     in einem Hospital; beides Aussichten, die sie noch weniger lockten, als sich an der Seite eines der herausgeputzten Gecken,
     die für sie Schlange standen, lebendig begraben zu lassen.
    Was konnte sie tun, wenn sie die Heirat als eine nicht in Frage kommende Option betrachtete? Sie würde sie nur tolerieren
     können, wenn sie sich wirklich in einen Mann verliebte, was sie aber praktisch für unmöglich hielt, da sich ihr Desinteresse
     nicht allein auf die langweilige Horde von Verehrern beschränkte, sondern für sämtliche Männer auf dem Planeten zu gelten
     schien, egal ob jung oder alt, reich oder arm, ansprechend oder abstoßend. Auf Einzelheiten |275| kam es dabei nicht an: Sie war fest davon überzeugt, sich nie in einen Mann ihrer Zeit verlieben zu können, mochte er sein,
     wie er wollte. Sie würde es nie können, weil deren Vorstellung von Liebe blass war im Vergleich zu der romantischen Erschütterung,
     nach der sie sich sehnte. Claire erwartete, dass eine aufrührerische Leidenschaft ihr Dasein aufwühlte, ein gewalttätiges
     Fieber ihre Seele versengte, eine wilde Ekstase sie zu Entscheidungen zwänge, die ihr die Größe ihrer Gefühle zu bestimmen
     erlaubte. Aber sie erwartete dies ohne die geringste Hoffnung. Denn diese Art zu lieben war schon so lange aus der Mode wie
     Halsrüschenblusen. Was blieb also? Konnte sie ohne das Einzige leben, das, wie sie annahm, ihrem Leben einen Sinn gab? Natürlich
     nicht.
    Vor ein paar Tagen war allerdings etwas passiert, das überraschenderweise ihre schlafende Neugier geweckt und sie auf den
     Gedanken gebracht hatte, dass die Welt, dem ersten Eindruck zum Trotz, Wundern gegenüber doch nicht ganz unzugänglich war.
     Lucy hatte sie mit der üblichen Aufgeregtheit gebeten, schnell zu ihr zu kommen, und sie war der Einladung ohne große Begeisterung
     gefolgt, weil sie argwöhnte, dass ihre Freundin wieder einmal eine ihrer langweiligen spiritistischen Sitzungen inszenieren
     wollte. Mit derselben Begeisterung, mit der sie die Arbeit der Pariser Modemacher verfolgte, hatte sich Lucy dieser aus Nordamerika
     kommenden Mode an den Hals geworfen. Claire machte es weniger etwas aus, so zu tun, als habe sie in einem verdunkelten Zimmer
     Umgang mit Geistern, als dass diese Séancen stets von Eric Sanders dominiert wurden, einem arroganten Schmächtling, der sich
     zum anerkannten Medium ihres Zirkels aufgeschwungen |276| hatte. Sanders behauptete, seine besondere Sensibilität erlaube ihm, mit den Toten zu sprechen, doch Claire wusste, dass dies
     nur ein Vorwand dafür war, ein halbes Dutzend lediger und leicht erregbarer junger Damen um einen Tisch zu versammeln, sie
     im beunruhigenden Halbdunkel mit lächerlicher Grabesstimme einzuschüchtern und ihnen bei diesen Gelegenheiten vollkommen gefahrlos
     die Hände zu streicheln und sogar ihre Schultern zu berühren. Der gerissene Sanders hatte dafür sogar
Das Buch der Geister
von Allan Kardec gelesen, weshalb es ihm gegeben war, mit scheinbar lässiger Autorität die Toten zu befragen. Doch es war
     ganz offensichtlich, dass die Lebenden ihn viel zu sehr ablenkten, als dass er sich auf die Antwort der Toten konzentrieren
     konnte. Nachdem Claire ihm bei der letzten Sitzung eine Ohrfeige gegeben hatte, als sie die allzu körperliche Hand eines angeblichen
     Geistes an ihrem Knöchel herumfummeln fühlte, hatte Sanders gegen ihre Anwesenheit bei den Séancen ein Veto eingelegt und
     dies damit begründet, dass ihre ablehnende Einstellung die Toten störe und die Kommunikation mit ihnen erschwere. Anfangs
     hatte sie den Ausschluss aus Sanders’ übernatürlichen Veranstaltungen als Erleichterung empfunden, nach einer Zeit jedoch
     hatte es sie deprimiert: Sie war einundzwanzig Jahre alt und hatte sich nicht nur mit der Welt überworfen, sondern auch mit
     der Unterwelt.
    An jenem Nachmittag hatte Lucy aber keine spiritistische Sitzung einberufen. Diesmal habe sie etwas viel Aufregenderes anzubieten,
     sagte sie mit trunkenem Lächeln und zog Claire mit in ihr Zimmer. Dort begann sie in einer Schublade ihres Schreibtisches
     zu wühlen, auf dem ein Exemplar von Darwins
Fahrt der Beagle
lag. Das Buch war |277| auf einer Seite aufgeschlagen, auf der die Zeichnung eines Kiwis zu sehen war, eines merkwürdigen Vogels, den ihre

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