Die Landkarte der Zeit
Arbeiten zu suchen, die für junge Damen ihres
Standes zur Verfügung standen. Da blieb nicht mehr, als sich als Stenotypistin in einem Büro zu verdingen oder als Krankenschwester
in einem Hospital; beides Aussichten, die sie noch weniger lockten, als sich an der Seite eines der herausgeputzten Gecken,
die für sie Schlange standen, lebendig begraben zu lassen.
Was konnte sie tun, wenn sie die Heirat als eine nicht in Frage kommende Option betrachtete? Sie würde sie nur tolerieren
können, wenn sie sich wirklich in einen Mann verliebte, was sie aber praktisch für unmöglich hielt, da sich ihr Desinteresse
nicht allein auf die langweilige Horde von Verehrern beschränkte, sondern für sämtliche Männer auf dem Planeten zu gelten
schien, egal ob jung oder alt, reich oder arm, ansprechend oder abstoßend. Auf Einzelheiten |275| kam es dabei nicht an: Sie war fest davon überzeugt, sich nie in einen Mann ihrer Zeit verlieben zu können, mochte er sein,
wie er wollte. Sie würde es nie können, weil deren Vorstellung von Liebe blass war im Vergleich zu der romantischen Erschütterung,
nach der sie sich sehnte. Claire erwartete, dass eine aufrührerische Leidenschaft ihr Dasein aufwühlte, ein gewalttätiges
Fieber ihre Seele versengte, eine wilde Ekstase sie zu Entscheidungen zwänge, die ihr die Größe ihrer Gefühle zu bestimmen
erlaubte. Aber sie erwartete dies ohne die geringste Hoffnung. Denn diese Art zu lieben war schon so lange aus der Mode wie
Halsrüschenblusen. Was blieb also? Konnte sie ohne das Einzige leben, das, wie sie annahm, ihrem Leben einen Sinn gab? Natürlich
nicht.
Vor ein paar Tagen war allerdings etwas passiert, das überraschenderweise ihre schlafende Neugier geweckt und sie auf den
Gedanken gebracht hatte, dass die Welt, dem ersten Eindruck zum Trotz, Wundern gegenüber doch nicht ganz unzugänglich war.
Lucy hatte sie mit der üblichen Aufgeregtheit gebeten, schnell zu ihr zu kommen, und sie war der Einladung ohne große Begeisterung
gefolgt, weil sie argwöhnte, dass ihre Freundin wieder einmal eine ihrer langweiligen spiritistischen Sitzungen inszenieren
wollte. Mit derselben Begeisterung, mit der sie die Arbeit der Pariser Modemacher verfolgte, hatte sich Lucy dieser aus Nordamerika
kommenden Mode an den Hals geworfen. Claire machte es weniger etwas aus, so zu tun, als habe sie in einem verdunkelten Zimmer
Umgang mit Geistern, als dass diese Séancen stets von Eric Sanders dominiert wurden, einem arroganten Schmächtling, der sich
zum anerkannten Medium ihres Zirkels aufgeschwungen |276| hatte. Sanders behauptete, seine besondere Sensibilität erlaube ihm, mit den Toten zu sprechen, doch Claire wusste, dass dies
nur ein Vorwand dafür war, ein halbes Dutzend lediger und leicht erregbarer junger Damen um einen Tisch zu versammeln, sie
im beunruhigenden Halbdunkel mit lächerlicher Grabesstimme einzuschüchtern und ihnen bei diesen Gelegenheiten vollkommen gefahrlos
die Hände zu streicheln und sogar ihre Schultern zu berühren. Der gerissene Sanders hatte dafür sogar
Das Buch der Geister
von Allan Kardec gelesen, weshalb es ihm gegeben war, mit scheinbar lässiger Autorität die Toten zu befragen. Doch es war
ganz offensichtlich, dass die Lebenden ihn viel zu sehr ablenkten, als dass er sich auf die Antwort der Toten konzentrieren
konnte. Nachdem Claire ihm bei der letzten Sitzung eine Ohrfeige gegeben hatte, als sie die allzu körperliche Hand eines angeblichen
Geistes an ihrem Knöchel herumfummeln fühlte, hatte Sanders gegen ihre Anwesenheit bei den Séancen ein Veto eingelegt und
dies damit begründet, dass ihre ablehnende Einstellung die Toten störe und die Kommunikation mit ihnen erschwere. Anfangs
hatte sie den Ausschluss aus Sanders’ übernatürlichen Veranstaltungen als Erleichterung empfunden, nach einer Zeit jedoch
hatte es sie deprimiert: Sie war einundzwanzig Jahre alt und hatte sich nicht nur mit der Welt überworfen, sondern auch mit
der Unterwelt.
An jenem Nachmittag hatte Lucy aber keine spiritistische Sitzung einberufen. Diesmal habe sie etwas viel Aufregenderes anzubieten,
sagte sie mit trunkenem Lächeln und zog Claire mit in ihr Zimmer. Dort begann sie in einer Schublade ihres Schreibtisches
zu wühlen, auf dem ein Exemplar von Darwins
Fahrt der Beagle
lag. Das Buch war |277| auf einer Seite aufgeschlagen, auf der die Zeichnung eines Kiwis zu sehen war, eines merkwürdigen Vogels, den ihre
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