Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
Selbstmordneigungen, |272| hört keine Stimmen, die sie von der anderen Seite mit unwiderstehlichem Sirenengesang rufen. Auch verursacht ihr die bloße
     Tatsache, am Leben zu sein, kein unerträgliches Unbehagen, das auf schnellstem Wege abgestellt werden müsste. Nein, nichts
     dergleichen. Alles war viel simpler: Die Welt, in die sie hineingeboren war, empfand sie einfach als nicht sehr verlockend
     und würde dies auch nie tun; zumindest war das der düstere Schluss, den sie aus ihren nächtlichen Gedankenwanderungen gezogen
     hatte. Sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihrem Dasein nichts abgewinnen, das ihr gefallen, sie erfreut oder neugierig
     gemacht hätte, und noch weniger konnte sie so tun, als wäre ihr das, was sie hatte, genug. Der Zeit, in der sie lebte, fehlte
     es ihrer Meinung nach an Aufregung, an Gefühl. Sie fand sie langweilig. Und da sie in ihrer Umgebung keinen Menschen kannte,
     für den das Leben genauso enttäuschend war wie für sie, verwandelte sich ihr Kummer in Verbitterung. Dieser tiefsitzende Groll,
     der sie ausgrenzte, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, ließ sie oft barsch und bissig erscheinen, und manchmal bordete
     er über, ohne dass es dazu eines Vollmonds bedurfte; dann war sie wie ein bockiges Fohlen und machte sich einen Spaß daraus,
     das familiäre Beisammensein zu ruinieren.
    Claire wusste genau, dass diese Anfälle von Unzufriedenheit nichts anderes waren als eine unproduktive Extravaganz, die ihr
     nicht im Geringsten weiterhalf; schon gar nicht in einem so kritischen Moment ihres Lebens, da ihre Hauptsorge eigentlich
     dahin gehen sollte, sich nach einem Ehemann umzusehen, der für ihren Unterhalt sorgte und ihr ein halbes Dutzend Kinder schenkte,
     welches aller |273| Welt die Fruchtbarkeit ihres Leibes demonstrierte. Ihre Freundin Lucy hatte schon recht, wenn sie ihr vorhielt, mit solch
     spröder Haltung noch sämtliche Verehrer zu verprellen, von denen einige schon aufgegeben hatten, weil Claires Unbeherrschtheit
     auf sie so abschreckend gewirkt hatte wie eine uneinnehmbare Festung. Trotzdem   – Claire konnte nicht anders. Oder doch?
    Manchmal fragte sie sich, ob sie wirklich mit ihrer ganzen Kraft versuchte, diese Unzufriedenheit, die an ihr fraß, zu überwinden,
     oder ob sie nicht ein krankhaftes Vergnügen daran fand, sich ihr widerstandslos hinzugeben. Warum konnte sie die Welt nicht
     so akzeptieren, wie sie war, genau wie Lucy, die die luftabschnürenden Korsetts ertrug wie eine Buße zur Läuterung der Seele
     und der es nichts ausmachte, nicht in Oxford studieren zu können. Lucy ließ sich von ihren Verehrern in gewissenhafter Reihenfolge
     hofieren, wohl wissend, dass sie früher oder später einen von ihnen würde heiraten müssen. Aber Claire war nicht wie Lucy:
     sie hasste diese Korsetts, die offenbar für den Teufel höchstselbst zugeschnitten waren; sie wollte ihr Gehirn genauso lohnend
     einsetzen, wie jeder Mann es tun konnte; und sie hatte nicht das geringste Interesse daran, einen dieser jungen Männer zu
     heiraten, die sie bedrängten. Besonders Letzteres war ihr schrecklich unangenehm, obwohl sich die Lage seit der Jugend ihrer
     Mutter schon sehr verbessert hatte. Damals verlor eine heiratende Frau ihren gesamten Besitz, sogar die Einnahmen aus ihrer
     Arbeit, die das Gesetz sogleich wie ein widriger Laubsturm in die gierigen Hände des Ehemannes wehte. Wenn sie sich heutzutage
     zur Heirat entschloss, konnte sie wenigstens ihren Besitz behalten und im Falle einer Scheidung sogar |274| das Sorgerecht für ihre Kinder beantragen. Trotzdem betrachtete Claire die Ehe immer noch als legale Prostitution, wie Mary
     Wollstonecraft es in ihrem Buch
Ein Plädoyer für die Rechte der Frau
genannt hatte; ein Buch, das Claires Bibel war. Sie bewunderte den leidenschaftlichen Kampf der Autorin um die verlorene Würde
     der Frau, ihren Einsatz dafür, diese nicht mehr als bloße Dienerin des Mannes zu betrachten, den die Wissenschaft für intelligenter
     hielt, weil seine Schädelmaße die weiblichen übertrafen und somit auf ein größeres Gehirn schließen ließen, wenngleich sie
     selbst Beispiele in Hülle und Fülle dafür anführen könnte, dass diese ach so großartigen Maße nur dazu taugten, einen größeren
     Hut zu tragen. Andererseits war sich Claire im Klaren darüber, dass sie für ihren Lebensunterhalt selbst würde aufkommen müssen,
     wenn sie sich nicht unter den Schutz eines Mannes begab; das hieß, sich eine der

Weitere Kostenlose Bücher