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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Freundin
     auf einem Blatt Papier abgezeichnet hatte, wohl deshalb, weil seine simple rundliche Gestalt nachzuzeichnen keinerlei künstlerisches
     Talent erforderte. Claire fragte sich unwillkürlich, ob ihre Freundin sich außer dem Betrachten der Bilder wohl noch die Mühe
     gemacht hatte, das Buch, das zur Lieblingslektüre der Bourgeoisie avanciert war, auch zu lesen.
    Als sie gefunden hatte, was sie suchte, schloss Lucy die Schreibtischschublade und drehte sich mit einem schwärmerischen Lächeln
     zu ihrer Freundin um. Konnte es für Lucy noch etwas Aufregenderes geben, als mit den Toten zu sprechen?, fragte sich Claire.
     Als sie auf das Flugblatt sah, das ihre Freundin ihr in die Hand gedrückt hatte, wusste sie die Antwort: mit denen zu sprechen,
     die noch gar nicht geboren waren. Mit glühendem Gesicht hatte Lucy ihr ein Blatt in himmelblauer Farbe überreicht, das Ihnen,
     wenn Sie aufgepasst haben, bekannt vorkommen dürfte. Darauf kündigte die Firma ZEITREISEN MURRAY eine Reise ins Jahr 2000
     an, wo man der Schlacht zwischen Menschen und Maschinen beiwohnen konnte, die das Schicksal der Menschheit entscheiden würde.
     Ungläubig las Claire das Blatt mehrere Male durch und betrachtete dann die unbeholfene Zeichnung unter dem Text, die offenbar
     besagte Schlacht darstellen sollte. Zwischen Gebäudetrümmern kämpften Menschen und Maschinen um die Zukunft der Welt und schossen
     mit befremdlichen Waffen aufeinander. Claires Blick verweilte auf dem Anführer der Menschenarmee, den der Illustrator in einer
     heldenhafteren Pose als die anderen gezeichnet hatte und der, wie es in der Bildunterschrift |278| hieß, den tapferen Hauptmann Derek Shackleton darstellte.
    Noch bevor sie sich wieder fassen konnte, verriet ihr die Freundin, sie sei am Morgen bei der angegebenen Adresse gewesen,
     und dort habe man ihr gesagt, für die zweite Reise seien noch Plätze frei, woraufhin sie für sie beide zwei Plätze gebucht
     habe. Claire schaute sie perplex an, doch Lucy, ohne sich zu entschuldigen, dass sie nicht Claires Zustimmung eingeholt hatte,
     erklärte ihr sogleich, wie sie die Zeitreise in die Tat umsetzen konnten, ohne dass ihre Eltern davon erfuhren, denn andernfalls
     würden sie ihnen die Teilnahme an der Expedition rundheraus verbieten oder, was noch schlimmer wäre, sie begleiten wollen.
     Lucy aber wollte das Jahr 2000 ohne lästige Anstandswauwaus erleben. Sie hatte an alles gedacht: Das Geld war kein Problem;
     sie hatte ihre reiche Großmutter Margaret gebeten, ihr den Betrag für beide vorzustrecken, selbstverständlich ohne ihr zu
     verraten, wofür sie das Geld verwenden wollten, und sie hatte mit ihrer Freundin Florence Burnett vereinbart, dass sie sie
     am kommenden Donnerstag in ihr Landhaus in Kirkby einlud. Für einen «kleinen Betrag» hatte sich Florence dazu bereit erklärt,
     und so würden sie, wenn Claire einverstanden war, an diesem Tag ins Jahr 2000 reisen und zum Nachmittagstee wieder zurück
     sein, ohne dass jemand etwas argwöhnte. Nachdem Lucy ihren Redeschwall beendet hatte, schaute sie Claire erwartungsvoll an.
    «Na?», fragte sie. «Kommst du mit?»
    Und Claire wusste nicht, wie sie hätte ablehnen können, selbst wenn sie es gewollt hätte.
    Die folgenden vier Tage waren in der Aufregung über |279| die Reise und mit der lustigen Geheimnistuerei bei deren Vorbereitung im Flug vergangen, und jetzt standen Claire und Lucy
     naserümpfend ob des Gestanks am Eingang des pittoresken Gebäudes von ZEITREISEN MURRAY. Ein Angestellter, der die Hauswand
     von offenbar tierischen Exkrementen befreite, bemerkte sie und entschuldigte sich für den unangenehmen Geruch, versicherte
     ihnen aber, wenn sie sich ein Tuch vor die Nase hielten oder die Luft anhielten, würden sie gleich nach Betreten des Hauses
     mit der Aufmerksamkeit empfangen, die so reizenden jungen Damen wie ihnen gebühre. Lucy verscheuchte den Mann mit einer zerstreuten
     Handbewegung, da sie nicht auf eine Widrigkeit hingewiesen werden wollte, die sie zu ignorieren gedachte, um sich diesen erhebenden
     Moment nicht beflecken zu lassen. Sie ergriff den Arm ihrer Freundin, und Claire wusste nicht, ob sie ihr damit Mut machen
     oder nur ihre Aufregung auf sie übertragen wollte. So überschritten sie beide die Türschwelle in Richtung Zukunft. Aus den
     Augenwinkeln beobachtete Claire den erhitzten Gesichtsausdruck ihrer Freundin und musste unwillkürlich lächeln. Sie wusste,
     worauf er zurückzuführen war: Die

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