Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
Lächeln, das ihm Mut machte, wenn seine Kräfte erlahmten;
     liebevolle Arme, in die er zurückkehren konnte, wenn der Krieg vorüber war. Einen Moment lang stellte Claire sich vor, wie
     dieser tapfere Mann, der in der Schlacht so hart und unbezwingbar war, in der Nacht wie ein hilfloses Kind ihren Namen flüsterte:
     «Claire, meine Claire   …» Die Vorstellung entlockte ihr ein Lächeln. Ein blödsinniger Gedanke; und doch war sie überrascht, wie es sie erschauern
     ließ, sich als Geliebte dieses Kriegers aus der Zukunft vorzustellen. Wie war es möglich, dass ein Mann, der noch nicht einmal
     geboren war, tiefere Empfindungen in ihr auslösen konnte als irgendeiner ihrer Verehrer? Die Antwort war einfach: In dieser
     gesichtslosen Skulptur erblickte sie all das, was sie ersehnte und nicht haben konnte. Wahrscheinlich war dieser Shackleton
     ganz anders, als Claire ihn sich zurechtfabriziert hatte. Mehr noch: Seine Art, zu denken, zu handeln und sogar zu lieben,
     müsste ihr absolut unbegreiflich und befremdlich vorkommen, wenn man in Betracht zog, dass sie ein ganzes Jahrhundert trennte;
     mehr Zeit als genug, um die Werte und Beweggründe der Menschen so zu verändern, dass sie für jene, die sie aus der Vergangenheit
     betrachteten, nicht mehr wiederzuerkennen waren. Das war das Gesetz des Lebens. Wenn sie |283| sein Gesicht sehen könnte, sagte sie sich, könnte sie vielleicht erkennen, ob sie recht hatte oder nicht, ob Shackletons Seele
     ein trüber Kristall war, den ihre Augen niemals würden durchdringen können, oder ob die sie trennenden Jahre nur eine bedeutungslose
     Anekdote waren und im Innern dieses Mannes etwas weste, das dem Lauf der Jahrhunderte mühelos widerstand, so etwas wie der
     Atem, den Gott seinen Geschöpfen eingehaucht hatte, um sie zum Leben zu erwecken. Aber da war dieser verdammte Helm, der jede
     Feststellung unmöglich machte. Claire würde sein Gesicht niemals zu sehen bekommen. Sie musste sich mit dem zufriedengeben,
     was sie sehen konnte, und das war ja nicht wenig: die kriegerische Haltung, das erhobene Schwert, die geschmeidige Muskulatur
     des angewinkelten rechten Beins, das rechte fest auf der Erde ruhend, die Ferse jedoch etwas angehoben, so als wäre der Hauptmann
     just in dem Moment auf seinem Sockel verewigt worden, als er zum Angriff auf seinen Gegner ansetzte.
    Erst als sie der Angriffsrichtung folgte, bemerkte Claire, dass der Statue eine andere auf der linken Seite der Tür gegenüberstand.
     Das Ziel von Shackletons stürmender Haltung war eine beunruhigende Figur, die fast doppelt so groß war wie er. Der Inschrift
     auf dem Sockel nach stellte sie Salomon dar, den König der Maschinenmenschen, den Erzfeind des Hauptmanns, den dieser am 20.   Mai des Jahres 2000, nach einem endlosen Krieg, in dessen Verlauf London in Schutt und Asche gelegt worden war, besiegt hatte.
     Claire betrachtete ihn voller Schrecken und entsetzt darüber, welche Entwicklung die Maschinen durchgemacht hatten. Als Kind
     hatte ihr Vater ihr einmal den
Schreiber
gezeigt, einen der von dem berühmten Schweizer Uhrmacher |284| Pierre Jaquet Droz konstruierten Maschinenmenschen. Sie erinnerte sich noch gut an den pausbäckigen Jungen, der, elegant gekleidet,
     an einem Pult saß, die Feder in ein Tintenfass tauchte und sie dann über ein Blatt Papier fahren ließ. Der mechanische Spielzeugmensch
     hatte jeden Buchstaben so beunruhigend langsam aufs Papier gemalt, wie es nur einer tun konnte, der außerhalb der Zeit existierte,
     und ab und zu hatte er sogar noch innegehalten und gedankenverloren ins Leere geblickt, als warte er auf einen Geistesblitz.
     Diesen abwesenden Blick des Maschinenmenschen hatte Claire nicht vergessen, weil sie sich immer vorzustellen suchte, auf welche
     ungeheuerlichen Gedanken solch ein Wesen kommen mochte. Dieses unbehagliche Gefühl war sie nie wieder losgeworden; nicht einmal,
     als ihr Vater sie auf den Mechanismus von Rädchen und Gestängen auf dem Rücken des unwahrscheinlichen Kindes hinwies, aus
     dem eine Kurbel ragte, mit der man diese Parodie von Leben in Bewegung setzen konnte. Jetzt jedoch zeigte sich ihr, wie die
     Zeit aus jenem grotesken, insgesamt jedoch harmlosen Kind ein eisernes Ungeheuer gemacht hatte, das vor ihr in die Höhe ragte.
     Sie überwand ihre Furcht und betrachtete es aufmerksam. Im Gegensatz zu Pierre Jaquet Droz war dem Konstrukteur Salomons nicht
     daran gelegen gewesen, die menschliche Gestalt möglichst getreu

Weitere Kostenlose Bücher