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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Reise hatte noch nicht einmal begonnen, und Lucy konnte es schon nicht mehr abwarten, ihre
     Erlebnisse in der Zukunft Freunden und Verwandten zu erzählen, die aus Furcht oder Desinteresse oder weil sie keinen Platz
     mehr bekommen hatten, in der faden Gegenwart geblieben waren. Ja, für Lucy war das Ganze nicht mehr als ein lustiges Abenteuer,
     von dem sie erzählen konnte wie von einem überraschenden Gewitter beim Picknick, oder einer Bootsfahrt, die stürmischer verlaufen
     war, als man erwartet hatte. Claire hatte sich entschlossen, ihre Freundin auf dieser |280| Reise zu begleiten, doch ihre Gründe dafür waren ganz andere. Lucy würde das Jahr 2000 besuchen, wie sie ein neues Kaufhaus
     besuchte, um dann rechtzeitig zum Nachmittagstee wieder zurück zu sein. Claire hingegen hatte nicht die mindeste Absicht,
     zurückzukommen.
     
    Eine affektiert staksende Sekretärin führte sie in einen Raum, in dem die dreißig Personen, die das Privileg genossen, an
     diesem Morgen ins Jahr 2000 zu fahren, sich lebhaft miteinander unterhielten. Dort werde ihnen ein Punsch gereicht, verkündete
     sie, danach werde Mr.   Murray sie willkommen heißen, über den Ablauf der Reise unterrichten und sie über den historischen Augenblick aufklären, den
     sie bald erleben würden. Nach diesen Worten zog sie sich mit einer mechanischen Verbeugung zurück und ließ die beiden jungen
     Damen im Saal zurück, der vormals der Zuschauerraum des Theaters gewesen war, wie die Logen in den Ecken und die Bühne im
     Hintergrund verrieten. Seiner Bestuhlung beraubt und nur mit einer Handvoll winziger Tischchen sowie unbequem aussehender
     Sessel möbliert, wirkte der Raum unverhältnismäßig groß; ein Eindruck, der noch verstärkt wurde durch die außergewöhnliche
     Höhe der Decke, an der Dutzende von Öllampen hingen, die von unten gesehen wie eine Ansammlung unheimlicher Spinnenwesen aussahen.
     Außer den bereits erwähnten Sesseln, in die sich mit Ausnahme einiger alter Damen niemand setzen wollte, weil die Aufregung
     dieses Augenblicks offenbar besser stehend zu bewältigen war, bestand das Mobiliar aus den Tischchen, auf die zwei eilfertige
     Serviererinnen jetzt die Punschgläser abzustellen begannen, einem auf der Bühne aufgebauten hölzernen |281| Pult und natürlich der imposanten Statue des tapferen Hauptmanns Shackleton, der den Gästen neben der Tür seinen Willkommensgruß
     entbot.
    Während Lucy ihre Blicke über die Anwesenden schweifen ließ und in einem Ton, der Zu- und Abneigungen verriet, deren Namen
     herunterleierte, betrachtete Claire überwältigt das marmorne Standbild eines Mannes, der noch gar nicht geboren war. In zweifacher
     Lebensgröße wirkte Hauptmann Derek Shackleton wie ein außergewöhnlicher Verwandter der griechischen Götter. Auf seinem Sockel
     nahm er eine ebenso kühne Haltung ein wie sie, doch die sorglose Nacktheit, in der jene sich darzustellen pflegten, bedeckte
     er mit etwas mehr als nur einem Weinlaubblatt. Der Hauptmann steckte in einer komplizierten Rüstung, die so geschnitten war,
     dass sie möglichst viel von seinem Körper vor dem Gegner verbarg, und die von einem Helm vervollständigt wurde, der das ganze
     Gesicht bedeckte und nur noch das markante Kinn sehen ließ. Diese Kapuze enttäuschte Claire, die die Gesichtszüge eines Retters
     der Menschheit gern näher betrachtet hätte. Sie war sicher, dass dieses hinter Eisen verborgene Antlitz keinem der Gesichter
     ihres Bekanntenkreises gleichen konnte. Es musste ein Gesicht sein, welches das Leben noch nicht erfunden hatte; ein Antlitz,
     wie es allein die Zukunft hervorzubringen vermochte. Sie stellte sich edle Gesichtszüge vor und einen entschlossenen Blick,
     der Vertrauen erweckte – immerhin war er ein Heerführer – und aus dem die unbezähmbare Wildheit seines Geistes leuchtete.
     Manchmal jedoch würde die Trostlosigkeit, die ihn umgab, einen Schleier der Wehmut über seine herrlichen Augen legen, da in
     seinem Kriegerherzen immer noch ein Rest von Empfindsamkeit |282| glomm. Und schließlich stellte Claire, die ihre hemmungslos romantische Natur nicht verleugnen konnte, sich noch vor, dass
     besonders in der Einsamkeit zwischen zwei Schlachten eine unbestimmte Wehmut in seinen Augen flackerte. Was mochte der Grund
     für diesen Kummer sein? Darauf gab es natürlich nur eine Antwort: Ihm fehlte ein geliebtes Antlitz, an das er denken, ein
     Name, den er des Nachts wie ein tröstendes Gebet murmeln konnte; ein

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