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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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beinahe denken, warum sollte man es dann leben? Man musste ja nicht leben; es war ein freiwilliger Akt.
    Wells schüttelte angesichts der Leiden des Jungen, der er einmal gewesen war, mitleidig den Kopf. Er wusste ja, dass sich die Dinge für ihn in einigen Monaten ändern würden, wenn er sich endlich von der Tyrannei seiner Mutter befreite und Mr. Horace Byatt um Hilfe bat, der ihm daraufhin einen mit zwanzig Pfund im Jahr dotierten Posten als Aushilfe in seiner Schule in Midhurst anbieten würde. Aber der Junge, der da jetzt beklommen aufs Meer starrte, wusste noch nicht, dass er dem tristen Dasein eines Tuchverkäufers entfliehen und sich eine kommode Existenz als Schriftsteller aufbauen würde. Wells schritt die Promenade entlang, entschlossen, in seine Jugend einzudringen und ein Gespräch mit sich selbst zu beginnen. Er vertraute darauf, dass die Falten, die fünfzig Lebensjahre in sein Gesicht gegraben hatten, dafür sorgen würden, dass der Junge ihn nicht erkannte; vor allem jedoch vertraute er darauf, dass seine genau kalkulierte Einmischung in den Lauf der Dinge nicht mehr Erde bewegte, als zu bewegen er beabsichtigte.
    «Selbstmord ist eine Option, die uns immer bleibt», sagte er mit sanfter Stimme, um seinen Doppelgänger nicht zu erschrecken, als er ihn erreicht hatte. «Deshalb empfiehlt es sich, erst einmal alle andere Möglichkeiten zu prüfen.»
    Der Junge drehte sich überrascht um und musterte ihn argwöhnisch. Während dieser Sekunden hatte Wells auch Gelegenheit, sich selbst in Augenschein zu nehmen. So hatte er also mit fünfzehn Jahren ausgesehen, dachte er, erstaunt über die Arglosigkeit in den Augen und über die sanften Lippen, denen der ironische Zug noch fehlte, den sie später gewöhnlich zeigten, das übertrieben Tragische seiner Bewegungen. Er fand, dass er schrecklich verletzlich und schutzlos aussah, während sich der Junge in seiner weltfremden jugendlichen Kühnheit vermutlich für unbesiegbar hielt.
    «Ich denke gar nicht an …», kam es von den Lippen, die noch kein Bärtchen zierte. Doch mitten in seinem Satz hielt der Junge inne und sagte dann verwirrt und in zugleich etwas herausfordernder Weise: «Woher wissen Sie das?»
    Wells schenkte ihm sein leutseligstes Lächeln in der Hoffnung, dadurch eine flüssige Unterhaltung zu befördern.
    «Oh, das ist nicht schwer zu erkennen», antwortete er in möglichst unbekümmertem Ton, «schon gar nicht für jemanden, der in seiner Jugend genau wie du auf dieses Wasser gestarrt und dieselben Gedanken gewälzt hat. Ich dachte damals, Selbstmord sei die beste Lösung für meine Probleme.» Er schüttelte übertrieben den Kopf und gab damit zu verstehen, wie peinlich ihm die Erinnerung daran war. «Jetzt jedoch weiß ich, dass man vorher andere Möglichkeiten ausprobieren, dass man kämpfen muss. Wenn dir dein Leben nicht gefällt, Junge, mach was Besseres daraus! Lass dich nicht unterkriegen. Erst der Tod ist das unwiderrufliche Ende.»
    Der Junge musterte ihn immer noch mit einem Rest von Argwohn. Was wollte dieser Fremde von ihm? Warum sprach er so mit ihm?
    «Vielen Dank für den Rat, wer immer Sie sind …», sagte er abweisend.
    «Oh, ich bin niemand.» Wells zuckte die Schultern und schaute gleichgültig aufs Wasser. «Nur ein Fremder, der dich allzu häufig hier stehen gesehen hat. Du arbeitest in Mr. Hydes Tuchgeschäft, nicht wahr?»
    «Ja», antwortete der Junge, dem sichtbar unbehaglich zumute war bei dem Gedanken, von einem Unbekannten ausspioniert zu werden, dessen Absichten er nicht einschätzen konnte.
    «Und du denkst natürlich, dass du etwas Besseres verdient hast, als dein Leben lang Verkäufer zu sein», fuhr Wells fort und versuchte, seiner Stimme einen vertrauenerweckenden Klang zu geben. «Du brauchst deshalb keine Schuldgefühle zu haben, Junge. Ich habe in deinem Alter genau das Gleiche gedacht, als ich zu einer Arbeit gezwungen war, die mir weder gefallen noch Befriedigung verschafft hat. Ich wollte nämlich Schriftsteller werden, weißt du?»
    Im Blick des Jungen leuchtete ein gewisses Interesse auf; dabei wusste Wells gar nicht mehr, ob er in dem Alter schon von einem Dasein als Schriftsteller geträumt hatte. Er hatte gern gelesen, klar, aber von seiner Fähigkeit, es den Schriftstellern nachzutun, die er am meisten mochte, wusste er noch nichts. Erst bei Professor Huxley an der Normal School of Science in London würde er seine ersten Erzählungen schreiben; in der steifen Handschrift noch, die

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