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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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entgangen und mit dem Leben davongekommen war. Noch eine Woche verbrachte er auf dem einfachen, aber bequemen Lager, wo er wieder zu Kräften kam und still seinen Sieg über den Gesandten genoss, sich jeden einzelnen Tag jener höllischen Expedition in Erinnerung rief, seine Zweifel, seine Ängste, die letzten dramatischen Augenblicke, in denen er zu scheitern glaubte, sodass alles vergebens gewesen wäre. Mit einem Wort: die große Befreiungstat, deren Held gewesen zu sein ihm jetzt unmöglich schien.
    Außerdem gelang es ihm in diesen Tagen, einige lose Fäden zu verknüpfen, um die er sich nicht hatte kümmern können, solange er mit wichtigeren Dingen beschäftigt gewesen war. Irgendwo hatte er zum Beispiel gelesen, dass der Schriftsteller Edgar Allan Poe und der Forscher Jeremiah Reynolds auf einer nicht näher bezeichneten Expedition eine Meuterei überlebt hatten, die er bislang noch nicht mit der Entdeckungsfahrt der
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in Verbindung gebracht hatte. Jetzt wurde ihm erst klar, dass es den beiden gelungen war, den Gesandten im Eis zu begraben und irgendwie nach New York zurückzukehren, wo sie eine Lügengeschichte über das verbreiteten, was am Südpol passiert war. Aber Wells wusste jetzt, was wirklich geschehen war. Und er konnte es ihnen nicht vorwerfen, die Welt belogen zu haben. Wären sie andernfalls nicht in ein Irrenhaus gesperrt worden? Ja, besser eine Meuterei erfinden und warten, dass Gras über die Sache wächst und man irgendwann sein altes Leben wieder aufnehmen kann. Wells wusste nicht, was aus Reynolds geworden war, aber Poe war jetzt einer der bekanntesten Schriftsteller der Welt. Er war sogar sein Lieblingsautor geworden, und er hatte sämtliche Werke von ihm gelesen, einschließlich
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, jener bösen Erzählung, der ein untergründiger Schrecken innewohnte, dessen Ursprung Wells noch frisch im Gedächtnis war.
    Wieder ganz genesen und zu Kräften gekommen, schiffte sich Wells nach New York ein und von dort aus – mit einem heiteren Lächeln auf den Lippen – nach London. Jetzt konnte er ganz ohne schlechtes Gewissen ein neues Leben beginnen. Das hatte er sich verdient. Und obwohl er sich überall in Amerika hätte niederlassen können, zog er es vor, in seine Heimat zurückzukehren. Er wollte endlich wieder durch London schlendern; feststellen, ob dort alles seine Ordnung hatte. Vor allem aber – musste er sich eingestehen – wollte er in der Nähe des im nächsten Jahr zur Welt kommenden Wells sein, ihn aufwachsen sehen, ein Auge auf ihn haben. Er wollte sehen, wie das Leben war, das er selbst nicht leben konnte, denn er musste sich ja eine neue Existenz schaffen. Und das Fehlen von Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, die die Schreibfeder zu halten pflegten, deutete darauf hin, dass er sich mit einem gewöhnlichen Dasein würde abfinden müssen. Damit, einer von vielen zu sein.

XLI
    Ein Jahr vor seiner Geburt traf H. G. Wells in London ein.
    Während der langen Überfahrt von einem Decksessel aus den glitzernden weiten Ozean betrachtend, hatte er viel Zeit gehabt, Pläne für die Zukunft zu schmieden. Er würde ein neues Leben unter dem falschen Namen Griffin beginnen, würde sich vielleicht einen Bart und das Haar lang wachsen lassen, damit ihn niemand erkannte, obwohl das eigentlich nicht nötig sein würde, denn wenn der echte Wells – warum nur musste er den anderen immer als den echten betrachten? – sein Alter hätte, wäre er schon ein ehrwürdiger alter Mann, dessen Falten jede Maskerade überflüssig machen würden. Es gab Wichtigeres, um das er sich kümmern musste, dachte er, wie zum Beispiel die Wahl des Ortes, in dem er leben wollte. Nach reiflicher Überlegung entschied er sich für Weybridge, einem Dörfchen vor den Toren Londons, das auch von Woking und Worcester Park nicht weit entfernt war; den beiden Orten, in denen der andere Wells wohnen würde. Denn eines war ihm absolut klar: Er würde sich zwar ein neues Leben aufbauen – was blieb ihm übrig –, aber dieses Leben würde nicht mehr als ein In-den-Tag-Hineinleben sein, weil es niemals sein wirkliches Leben sein könnte. Dieses nämlich, ein Leben mit allen Höhen und Tiefen, würde dem anderen Wells gehören; und nur wenn er diesem so nah wie möglich blieb, sich gewissermaßen an dessen Feuer wärmte, hätte sein neues Dasein als Nichtexistenter einen Sinn. Ja, nur als Zeuge der großen Ereignisse im Lebens seines Doppelgängers – der, die er bereits erlebt

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