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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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sich aufs Neue seinem Fleisch entrissen fühlte, frei schwebend allem Leiden enthoben war, um in der nächsten Sekunde wieder zurückzusinken in Schmerz und eisige Kälte. Zwei-, dreimal oder mehr erbrach er sich im Schnee, während ein Teil seines Verstandes begriff, dass er sich auf einer Zeitreise befand, hin und her reiste durch Zeit und Raum, vielleicht Jahrhunderte durchquerte, wie betrunken durch die Ewigkeit taumelte. Sein Körper war auf der Flucht vor dem Tod, jenem schrecklichen Abstumpfen, das kein Ende zu nehmen schien und seine Eingeweide zu vereisen drohte. Doch keine Flucht durch die Zeit konnte ihm helfen, solange er nicht auch dem Raum entkam; jener Eiswüste, die alles daransetzte, sein Grab zu werden, manchmal in tiefem Dunkel lag, manchmal von einer trüben Sonne erhellt wurde, die wie ein Quecksilbertropfen am Himmel hing. Er konnte nicht von einem Ort entkommen, der älter zu sein schien als die Zeit.
    Völlig erschöpft im Schnee liegend, wurde ihm allmählich bewusst, dass sein Erbrechen aufgehört und auch das Gefühl von Übelkeit nachgelassen hatte. Der Schnee schimmerte matt unter einer blassen Sonne, und es schien nicht mehr so kalt zu sein. Vielleicht waren es nur noch drei oder vier Grad, was dem zu Tode erschöpften Wells die Andeutung eines dankbaren Lächelns entlockte. Eine Weile lag er so im Schnee und wartete auf den nächsten Zeitreiseschub. Er wartete jedoch vergebens. Hatte er den rätselhaften Mechanismus in seinem Hirn etwa überstrapaziert?, fragte er sich, am Rande der Bewusstlosigkeit hindämmernd. So wie die
Annawan
im Eis festgesessen hatte, saß sein Körper jetzt in einem unbekannten Jahr fest, von dem er nur wusste, dass es das Jahr seines Todes sein würde.
    Dann erblickte er das Antlitz Gottes.
    Es war ein Antlitz mit dunkelgelber Haut, mit hohen Wangenknochen und schräggestellten Augen von intelligenter Einfachheit. Es betrachtete ihn aufmerksam, als versuche er ihn seiner Herde zuzuordnen. Und vielleicht weil er sein Fehlverhalten korrigiert und die Erde gerettet hatte, beschloss Gott, dass er leben sollte. Mit seinen kleinen Händen hob er ihn hoch und legte ihn auf einen Schlitten. Mit den Resten seines Bewusstseins nahm Wells wahr, dass etwas auf ihn gelegt, dass er zugedeckt wurde, und dann vernahm er ein scharrendes Geräusch, etwas wie ein anhaltendes Schaben, das – so begriff er allmählich – das Geräusch des über den Schnee gleitenden Schlittens war. Gott brachte ihn irgendwohin, und nach einer Weile – er wusste nicht, ob nach Tagen, Stunden oder Jahren – hörte er Stimmen, ein Gewirr von Wörtern in verschiedenen Tonlagen, deren Bedeutung ihm jedoch verborgen blieb. Er spürte Hände, die ihn abtasteten und auszogen, und schließlich hörte die Welt auf, sich zu drehen, und verharrte in einem Zustand lauen Wohlbefindens. Durch die Nebel seiner Bewusstlosigkeit erkannte Wells zwar nicht genau, was mit ihm geschah, aber er merkte, dass die Kälte verschwunden war. Allmählich spürte er auch seinen Körper wieder: seine Füße, auf denen offenbar eine Decke lag; den Rücken, der auf etwas Weichem ruhte; seinen Kopf in einem Nest aus wallendem Flaum. Sein Dasein auf der Welt hatte wieder einen kräftigen Strich bekommen.
    Eines Tages – wie viel Zeit vergangen war, wusste er nicht – erwachte er in der Koje einer warmen und gemütlichen Hütte, die zu einer Walfangstation zu gehören schien. Wie es aussah, lebte er und war auch – bis auf einen Verband an der rechten Hand – relativ unverletzt. An der Einrichtung und der Kleidung der Menschen, die ab und zu die Hütte betraten, konnte er nicht erkennen, in welcher Zeit er sich befand, und so tat er sein Aufwachen mit der alle befremdenden Frage kund, welches Jahr man wohl schrieb. Man antwortete ihm, das Jahr des Herrn 1865 . Wells nickte und zeigte ein kraftloses Lächeln. Besonders weit war er nicht gekommen. Vielleicht hatte er zwischendrin längere Zeitsprünge gemacht, erfahren würde er es nie. Fünfunddreißig Jahre war es her, dass er dem Gesandten die Harpune in den Leib gerammt hatte, und knapp ein Jahr würde es noch dauern, bis in einer von Kakerlaken verseuchten Wohnung in Bromley ein Mensch geboren würde, der vollkommen identisch mit ihm war.
    Als ihm der Stationsarzt ein paar Tage später den Verband abnahm, stellte Wells fest, dass ihm Daumen und Zeigefinger der rechten Hand fehlten, doch schien ihm das ein unbedeutender Preis zu sein dafür, dass er dem Tod durch Erfrieren

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