Die Lanze des Herrn
Sie war hinunter in die Eingangshalle des alten Palastes aus dem 18. Jahrhundert gegangen, in dem nur wenige Familien wohnten. Bevor sie die Tür öffnete, um mit dem Kinderwagen spazieren zu gehen, sah sie in den Briefkasten, auf dem ISABELLE DESMARAIS stand. Isabelle Desmarais. Der vatikanische Geheimdienst hätte sich einen besseren Namen ausdenken können. Der Briefkasten war leer. Offenbar waren die Massen nicht von ihrer neuen Identität begeistert. Umso besser. Sie öffnete gerade etwas mühsam das schwere hölzerne Eingangsportal, als ihr Mobiltelefon klingelte. Es war Kardinal Lorenzo. Sie drückte auf einen Knopf, um das Gespräch auf dem verschlüsselten Kanal zu führen.
»Hier ist Dino, wie geht es Ihnen?«
»Alles bestens. Es mag Ihnen verrückt vorkommen, aber ich habe den Eindruck, ein ganz neues Leben zu führen. Ich weiß zum Glück, dass Sie auf mich aufpassen und ich Sie regelmäßig besuchen kann. Ich bin nicht sicher, dass ich für immer auf Sie verzichten kann… Sie fehlen mir!«
»Meine liebe Judith, ich habe etwas gezögert, bevor ich Sie angerufen habe, aber ich habe mir gesagt, Sie hätten das Recht, es zu erfahren.«
Sie blieb stehen und hielt den Türflügel mit dem Kinderwagen.
»Was erfahren?«, fragte sie leicht beunruhigt.
»Schwester Internet hat neue Nachrichten erhalten. Eine davon ist…«
»Lassen Sie mich raten. Die Unterschrift lautet…«
»Ernst Heinrich. Axus Mundi… Er glaubt, dass das Kind lebt. Er meint, wir hätten es irgendwo versteckt. ICH WERDE ES FINDEN. Das hat er geschrieben. Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um ihn vorher zu finden. Aber Axus Mundi gibt es noch immer, Judith. Seien Sie vorsichtig!«
Das Gesicht der jungen Frau verdüsterte sich. Sie schwieg ein paar Sekunden und sagte dann:
»Ach, sollen diese Verrückten doch bleiben, wo sie sind. Und glauben Sie mir…«
Ihre Kehle war trocken.
»Alles wird gut gehen.«
Damit beendete sie das Gespräch. Sie legte wieder beide Hände an den Kinderwagen und schob ihn über die Schwelle. Sie holte tief Luft und lächelte, als sie die warme Sonne auf ihrer Haut spürte. Dann setzte sie eine undurchdringliche Miene auf und holte ihre Sonnenbrille hervor.
Während sie weiterging, betrachtete sie das Kind.
»Haben Sie eine Idee, wie Sie das Kind hätten nennen wollen?«, hatte sie die junge Mutter zum Abschied gefragt.
»Ich hatte an Samuel, Nathan oder Emmanuel gedacht«, hatte sie erwidert.
Das Baby sah sie lächelnd mit seinen großen schwarzen Augen an. Wieder einmal spürte Judith, wie ihr Herz vor Glück höher schlug.
Liebe, das war das Einzige, was jetzt noch zählte, jetzt, wo die Welt kopfstand. Sie dachte an die Worte des Papstes bei der Unterredung in Castel Gandolfo.
»Selbst wenn dieses Kind vollkommen wäre, wäre es nicht Christus. Noch nicht einmal eine Kopie, sondern es wird ein unschuldiges Kind, ein Opfer der enormen, tragischen Dummheit seiner Väter sein.«
Sie schüttelte den Kopf, wie um diese Gedanken zu vertreiben, und sah wieder das Kind an.
Ich werde es von ganzer Seele, ganzem Herzen und mit aller Kraft lieben.
Seit man ihr das Kind anvertraut hatte, das aus dem Nichts kam, hatte sie die verschiedensten Seelenzustände durchgemacht. Die Sorge, nicht richtig mit ihm umgehen zu können, die Angst, über es wachen zu müssen, und die wunderbare, unerwartete Freude, sich jede Sekunde um das Kind kümmern zu dürfen.
Jetzt nahm sie ihr Schicksal an. Sie war eine Mutter, eine richtige Mutter. Sie lächelte wieder.
Samuel oder Nathan oder Emmanuel.
»Weißt du was, Eli«, sagte sie und beugte sich über den Wagen, in dem das Kind vor sich hin brabbelte.
Sie lächelte über das ganze Gesicht.
»Ich glaube, ich muss einen Vater für dich finden.«
Sie ging weiter und fügte hinzu:
»Einen seriösen, wenn möglich.«
Auf einem der Nachbarhäuser stand Anselmo, und seine maßgeschneiderten Rockschöße flatterten im Wind. Er passte auf Judith auf. Lässig fuhr er über das silberne Kruzifix an seinem Revers. Von dort, wo er stand, sah er die Dächer der Insel und konnte sogar die Wasserspeier von Notre-Dame erahnen. Es sah aus, als sei der Schutzengel im Begriff, seine Flügel auszubreiten.
Er beobachtete, wie sich die junge Frau mit dem Kinderwagen entfernte. Sicher sang Judith dem Kleinen gerade etwas vor. Ein altes angelsächsisches Sprichwort kam ihm in den Sinn: »Wer die Hand auf die Wiege legt, regiert die Welt.«
Was für eine Zukunft wünschen wir
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