Die Lanze des Herrn
seiner Geburt erzählte und den Schleier über seiner Zeugung lüftete. Was aus diesem Kind werden würde, hing nicht von den Sternen oder den Umständen seiner Geburt ab, sondern von seiner Erziehung, dessen war sich Judith im Grunde voll bewusst. Denn jeder Mensch war einzigartig und geheimnisvoll. Das Leben dieses Kindes würde jedoch am Faden der Schicksalslanze hängen, dieses Bild kam ihr in den Sinn. Ihr war, als konzentrierte sich das Schicksal der Menschheit in diesem Kind. Sie würde ihm beibringen müssen, wie es vermied, zu stürzen, wie es gerecht und in Würde lebte. Sie stellte sich vor, wie sie mit ihm sprechen, ihm Dinge zeigen und vermitteln würde. Sie würde es liebkosen, ihm das Glück schenken, das es verdiente, trotz des Makels, der seiner Zeugung anhaftete. Ja, so würde sie es erziehen. Eine Welle des Gefühls überschwemmte sie. Sie schwor sich, dass es von ihr lernen sollte, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Da wurde ihr plötzlich bewusst, dass das Neugeborene noch keinen Namen hatte. Niemand hatte daran gedacht, ihm einen zu geben. Würde es getauft werden? Und wie?
Um sechs Uhr morgens, zur Laudes, reichte man ihr das Kind. Die beiden Frauen trennten sich und versuchten, die Kluft, die sich zwischen ihnen auftat, zu vergessen.
Judith ging fort wie ein Schatten, begleitet von zwei Nonnen, den Ärzten und einer Eskorte des Vatikans. Auch Anselmo wartete vor dem Kloster auf die junge Frau. Zunächst sollte das Kind alle Fürsorge erfahren, die es brauchte, während es noch einige weitere Untersuchungen über sich ergehen lassen musste. Man brachte Mutter und Kind in einem Krankenwagen in eine entfernt gelegene Privatklinik.
Blumenrabatten, die auf den Frühling warteten, säumten die Wege. Unter einem Baum stand eine kleine Bank. Der Kreuzgang des Klosters war mit geometrisch gepflanzten Zwergzypressen verziert. Die Leihmutter saß am Brunnen, vor fremden Blicken geschützt. Das Kind, das sie streichelte, existierte nur in ihrer Fantasie.
»Fürchtet euch nicht, denn ich verkündige euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll. Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das in Windeln gewickelt in einer Krippe liegt. Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das lobte Gott und sprach: Verherrlicht ist Gott in der Höhe und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade.«
Ihre Augen verloren sich im Leeren. Sie war blass und zitterte.
Was habe ich getan? Was habe ich nur getan?, fragte sie sich.
Und in der Stille des Klosters in Bethlehem weinte das junge Mädchen.
♦♦♦
Unter dem Palast, in dem die große Bibliothek des Vatikans untergebracht war, hatte Paul VI. eine unterirdische Wohnung bauen lassen. Das war während des Kalten Krieges gewesen, als der CIA dem Papst dringend empfohlen hatte, einen Atombunker anzulegen. Man konnte nicht vorsichtig genug sein. In dieser Wohnung hielt sich gerade Kardinal Lorenzo auf. Da niemand mehr ein Interesse daran hatte, waren hier auf seine Anordnung hin einige Stücke der legendären vatikanischen Sammlungen untergebracht worden. Die Schicksalslanze gehörte auch dazu. Er betrachtete sie auf dem Samtbett in dem Reliquiar aus Gold und Edelsteinen. Nur die Spitze der Waffe war durch eine Plexiglasscheibe zu sehen.
Man hatte überlegt, ob man sie vernichten sollte, ein für alle Mal vernichten sollte. Dann aber hatte man beschlossen, sie im Atombunker aufzubewahren, in dem neuen Heiligtum einer Ära, da man eine nukleare Katastrophe befürchtet hatte. Der Bunker sah wirklich wie eine Kapelle aus, aus der die gesegnete und gleichzeitig verfluchte Waffe nicht mehr herauskommen würde. Der Kardinal stand mit übereinander gelegten Händen neben seinem Sekretär. Er holte tief Luft und dachte daran, wie alles mit dem Grab des Kreuzritters aus Akko und den Pergamenten angefangen hatte, die sie am besten niemals ausgegraben hätten.
Das Bild Enrico Josis, des Leiters des archäologischen Teams in Megiddo, tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Lange ruhten die Blicke der beiden Männer auf der Lanze. Dann wandten sie sich zum Ausgang. Der Kardinal gab den beiden Schweizern ein Zeichen. Sie drückten auf einen Knopf. Ein letztes Mal drehten sich beide nach der Lanze um, während sich die Tür schloss. Sie lag in ihrem Schrein wie die Büchse der Pandora.
»Hoffen wir, dass die
Weitere Kostenlose Bücher