Die Lanze des Herrn
unsere Botschaft. Sollte es zu Problemen kommen, haben wir den einzig richtigen Weg eingeschlagen, der einen Wert hat, den Weg der Aufrichtigkeit und der Liebe. Wir müssen dem Kind Anonymität geben. Damit es sich unter die Menschen mischen kann. Davon abgesehen werden wir es natürlich im Auge behalten und ihm die besten Chancen geben, das zu werden, was es werden soll.«
»Aber wir brauchen doch jemanden, der es betreut, einen Vater, eine Mutter!«, rief Kardinal Lorenzo aus. »Was wird aus der Leihmutter?«
»Sie wird auf keinen Fall hier entbinden. Sie wird das Kind in einem unserer Klöster zur Welt bringen. Wir organisieren ihre Reise noch heute. Es ist ebenso unmöglich, dass sich Elena um das Kind kümmert, wenn es auf der Welt ist. Sie ist Mitglied von Axus Mundi, vergessen Sie das nicht. Ob sie wirklich wusste, worauf sie sich eingelassen hat? Alles spricht dafür. Man hat sie gewiss sehr gut bezahlt. Sie war »nur« die Leihmutter, wenn ich mich so ausdrücken darf. Wahrscheinlich war es von Anfang an vorgesehen, dass sie das Kind den Wissenschaftlern überlässt. Ich weiß nicht, was Axus Mundi mit ihr gemacht hätte. Vielleicht werden wir ihr gestatten, das Kind zu sehen. Ich muss mit ihr sprechen, ihr Herz ergründen. Ihren Geist. Aber sie wird auf jeden Fall für einige Zeit von ihm getrennt. Sie wird in das Geheimnis eingeweiht, damit sie schweigt. Schweigen wird das Beste für sie sein.«
»Aber, Heiliger Vater, sind Sie sicher, dass…?«, begann Kardinal Lorenzo aufgeregt.
»Andererseits ist Ihr Einwand völlig berechtigt, dass das Kind jemanden braucht, der es versorgt, jemanden, der in der Lage ist, es zu erziehen.«
»Und ihm die Liebe gibt, die es verdient.«
»Jemand, der ein gutes Herz hat.«
»Der vertrauenswürdig ist.«
»Aber wer soll das sein?«
Für den Papst und seine Kardinäle stand die Antwort fest.
Sie sahen alle in dieselbe Richtung.
Judith fiel aus allen Wolken. Blass, unfähig, den geringsten Ton hervorzubringen, rang sie nach Worten. Wie versteinert deutete sie auf ihr Herz und stotterte: »I… Ich???«
10. Kapitel
Kloster der Stillen Schwestern, Bethlehem, 2007 Atombunker, Vatikan, 27. 10. 2007 Insel Santorini, 27. 10. 2007
In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum ersten Mal; damals war Quirinius Statthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen.
Lukas (2,1-3)
Einige Wochen später trafen die ersten Ultraschallaufnahmen im Vatikan ein.
Am 23. Januar 2007, kurz nach Weihnachten und dem Dreikönigstag am 6. Januar, würde das Kind zur Welt kommen.
Die Glocken läuteten. Es war kalt, am Himmel zogen Wolken.
Im Kloster der Stillen Schwestern beteten die Schwestern zu den kanonischen Stunden, und die Leihmutter bereitete sich auf die Geburt vor. Zur Zeit der Prim, des Nachtgebetes um drei Uhr, verkürzte sich der Abstand ihrer Wehen um die Hälfte. Zur Zeit der Terz, des Gebets um neun Uhr morgens, begannen einige Schwestern in aller Stille das Bett für die Geburt vorzubereiten. Es war weiß und blau, die frischen Laken waren makellos. Die Sexte wurde gebetet, als Judith im Kloster eintraf. Zur None, dem Gebet um fünfzehn Uhr, begegneten sich Judith und die Leihmutter wieder. Kleine, flinke Hände erledigten alles, was für die Gebärende getan werden musste. In dem für die Geburt vorbereiteten Zimmer duftete es nach Kräutern und Essenzen. Zur Vesper, dem Abendgebet um achtzehn Uhr, platzte die Fruchtblase. Die jüngsten Ultraschallaufnahmen waren auf einem beleuchteten Schirm befestigt. Die beiden Ärzte, von denen die Leihmutter in der Poliklinik Gemelli und danach bei den Schwestern der Unbefleckten Empfängnis betreut worden war, waren ebenfalls anwesend. Sie hatten den Gesundheitszustand der Mutter laufend überwacht. Die modernen medizinischen Geräte und die uralten Steinwände des Klosters standen in einem eigenwilligen Kontrast zueinander.
Judith trat ein wenig zurück, als sich die Schwestern an das Bett der jungen Frau stellten. Judith konnte nicht umhin, an das Weihnachtsevangelium zu denken. Die neue Krippe hier sah sehr anders aus. Um das Bett herum standen Vasen mit Blumensträußen, die den grauen Steinwänden Farbe gaben. Weihrauch ringelte sich in feinen Spiralen zur Decke. Durch hohe Spitzbogenfenster fielen Lichtstrahlen, die sich hier und da kreuzten. Auf einem Buntglasfenster war der enthauptete hl. Benedikt mit
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