Die Laute (German Edition)
Ziel kann ich dich nicht lehren. Aber den Weg. Du hast eine Gabe, Junge, die meine weit übersteigt.« Dem Alten scheint dieses Lob eine große Mühe abverlangt zu haben. Sogleich schränkt er es wieder ein: »Aber deine Fingertechnik ist eine Katastrophe, Schafskopf! Wenn du wirklich ein Meister werden willst, musst du üben, üben, üben! Denn die Technik ist es, in der die Gabe Laut wird. Und du fängst spät damit an. Wahrscheinlich wird deine Technik deiner Gabe ein Leben lang hinterherhinken!« – Den letzten Satz murmelt der Alte eher für sich selbst, als habe er den Jungen bereits vergessen, der mit hochrotem Kopf vor ihm steht.
»Trotzdem wollen Sie mich unterrichten?«
»Früher hatte ich immer nur Schüler, die die Saiten zupften wie einen Stacheldrahtzaun. Ich hatte das Unterrichten längst aufgegeben. Du weißt zwar nicht einmal, wie man eine ’Ud richtig stimmt. Aber du streichelst die Saiten, als seien sie aus Seide gesponnen.«
»Ich werde Sie nicht bezahlen können«, flüstert Asis, und erneut schießt ihm das Blut ins Gesicht. »Mein Vater ist ein einfacher Schuster.«
»Keine Angst, mein Junge, ich werde schon etwas finden, mit dem du dich erkenntlich zeigen kannst«, knurrt der Alte, »Komm an deinen schulfreien Tagen zu mir nach Dschibla!«
Er sitzt im Religionsunterricht und schreibt das Wort
Inaja
in sein Heft. Er weiß nicht, warum er das tut. Er schreibt es ein zweites Mal, in noch sorgfältiger gezeichneten Buchstaben.
Der Religionslehrer lässt die Klasse gemeinsam wiederholen, was er gerade gesagt hat. Asis’ Lippen sprechen mit den anderen die Worte nach, ohne zu begreifen, was sie da nachplappern.
Hamid, sein Banknachbar, stößt ihn an: »Was kritzelst du da vor dich hin?«
Asis schüttelt den Kopf und schlägt das Heft zu. »Nichts. Wieso?«
»Du weißt, meine ältere Schwester heißt Inaja!«
Dschibla liegt nur zehn Kilometer von Ibb entfernt, beharrt aber stolz auf ihre Eigenständigkeit. Obwohl die Stadt wesentlich kleiner ist als Ibb, ist sie doch größer an Geschichte. Vor tausend Jahren war sie einmal die Hauptstadt des Jemen.
Sie liegt auf der Kuppe eines Basalthügels. Über eine Steinbrücke betritt man die Unterstadt, und ein steiler Pfad führt von dort hinauf zur Oberstadt und zur Großen Moschee der Königin Arwa. Unmittelbar gegenüber der Moschee lebt Bilal, nicht in einem eigenen Haus, sondern in einem kleinen dunklen Zimmer des Funduq al-Arwa.
Nachdem der junge König Mukharam schwer erkrankte, übernahm seine Gemahlin, Arwa bint Ahmad, die Regierungsgeschäfte. Und als Mukharam bald darauf starb, wurde Arwa Königin. Sie regierte das Land bis zu ihrem Tod im Jahr 1138. Sie wurde zweiundneunzig Jahre alt. Jedes Kind im Jemen kennt diese Geschichte.
Unter ihrer klugen Herrschaft erblühte das Land. Sie ließ Terrassen zum Feldanbau und Aquädukte zur Wasserversorgung bauen. Sie legte auch den Grundstein zur Großen Moschee, in der sie nach ihrem Tod beigesetzt wurde.
Die Häuser in Dschibla sind ähnlich hoch und trutzig gebaut wie in Ibb, doch sind alle Türstürze und Fenstereinfassungen mit weißem Kalk verputzt. Nur Bilals Herberge wirkt düster und schäbig. Aber er lebt seit ewigen Zeiten hier, und in der Nachbarschaft erzählt man sich, dass er als junger Mann einmal in der Woche mit der Wirtin seines Hotels, einer alten Witwe, habe schlafen müssen, um die Kosten für die ärmliche Unterkunft zu begleichen. – Nun ist die Witwe seit einem halben Jahrhundert tot, längst führt eine Enkelin mehr schlecht als recht das Haus, und nur Bilal selbst könnte noch bezeugen, was an diesen Gerüchten der Wahrheit entspricht.
Niemand öffnet auf sein Klopfen. Aber die Tür ist nicht abgeschlossen. Also tritt Asis ein.
Meister Bilal sitzt am Tisch. Die Gaslampe brennt auf kleiner Flamme und lässt die Ecken des Zimmers im Dunkel. Der Meister sitzt still und ein wenig gekrümmt da und versucht, weißen Zwirn in eine Nähnadel einzufädeln. Seine rechte Hand zittert. Auf den Schenkeln liegt die weiße Senna des Meisters, die wohl schon seit Längerem eingerissen ist und die Bilal nun flicken will.
Asis schämt sich, dass er unaufgefordert ins Zimmer getreten ist und nun den Meister in der ganzen Verletzlichkeit des Alters vor sich sieht. Bilal trägt nur sein Unterhemd und eine knielange Unterhose, während er das Ende des Fadens in den Mund nimmt und befeuchtet und dann zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her rollt. Offenbar hat er Asis nicht
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