Die Laute (German Edition)
erwartet. Asis nicht und auch keinen anderen Besuch.
Nun hält er die Nadel gegen das Licht, beugt den Kopf vor und versucht, den Zwirn durch das Nadelöhr zu führen. Aber das Zittern der Hände nimmt zu, je mehr er sie zur Ruhe zwingt.
Asis würde ihm gerne Nadel und Faden aus der Hand nehmen. Ihm wäre es mit Leichtigkeit gelungen, das störrische Garn ins Öhr zu zwingen, ist er in diesen Dingen doch schon als kleiner Junge seinem Vater zur Hand gegangen. Aber er befürchtet, den Alten zu beschämen. Er ruft leise seinen Namen: »Meister Bilal!« Doch der Alte müht sich weiter, als habe er Asis’ Stimme nicht gehört.
Endlich hat der Faden seinen Weg gefunden, und Bilal legt das zu flickende Gewand auf den Tisch. Die Arbeit scheint dem Alten Vergnügen zu bereiten. Er beginnt, ein Lied zu summen. Asis lauscht, aber er erkennt die Melodie nicht. Ja, er hat den Eindruck, dass der Meister erschreckend falsch singt und keinen Ton richtig trifft. Davon unbeirrt summt der Alte jetzt allerhand Variationen, die eher dem Zischen und Pfeifen der Gaslampe gleichen als menschlichem Gesang.
Asis darf nicht länger an der Tür stehen bleiben und seinen Meister, der sich alleine glaubt, bei seinen privatesten Verrichtungen beobachten. Es kommt ihm vor, als würde er den Meister nackt sehen. Er ruft noch einmal seinen Namen: »Meister Bilal!«, lauter, aber nicht so laut, dass sich der Meister erschrecken könnte. Er klopft gegen den hölzernen Türrahmen und fährt fort: »Ich bin’s, Asis! Sie haben mich gebeten, zu Ihnen nach Dschiblah zu kommen!« – Doch der Meister hebt nur einmal kurz den Kopf, als habe in einer der dunklen Ecken eine Maus leise geraschelt, und fährt dann unbeirrt mit seiner Näharbeit und seinem Lampengesang fort.
Laut aufstampfend tritt Asis ins Zimmer und ruft mit kräftiger Stimme: »Salam alaikum, Meister Bilal! Ich bin’s, Ihr neuer Schüler!« – Erschrocken wendet sich der Alte zu Asis um.
»Warum hast du nicht angeklopft, mein Sohn? Der Schüler tritt nicht einfach unaufgefordert ein!«
Der Alte weist auf einen Stuhl und fährt dann mit der Näharbeit fort, doch ohne weiter vor sich hin zu singen. Asis setzt sich.
»Du bist verdächtig still für einen Dreizehnjährigen«, grummelt Bilal schließlich, nachdem er den Riss geflickt hat. »Fast kommst du mir wie ein Dieb oder ein Spion vor, Junge!«
»Vierzehn«, antwortet Asis knapp.
»Was?«
»Ich bin vor einigen Wochen vierzehn Jahre alt geworden!«
Der Alte schüttelt den Kopf. Und plötzlich begreift Asis, dass das Alter seinen Meister hat schwerhörig werden lassen. Die Finger spielen auf den Saiten immer noch so kunstvoll, wie sie es seit Jahrzehnten geübt sind, aber der Meister hört es nicht mehr, hört seine eigene Stimme nicht mehr und nicht die leisen Töne des Alltags.
8
Früher ist er immer gleich hellwach gewesen. Dämmerte es draußen, ist er aufgesprungen und hat sich ohne nachzudenken in den Tag gestürzt. Nun liegt er lange mit geschlossenen Augen da, auf merkwürdige Weise unentschieden und zweifelnd. Nicht, dass ihn sein gegenwärtiges Leben abstieße. Aber irgendetwas in ihm beharrt darauf, dass es nicht sein Leben sei; dass hier ein Irrtum vorliegen müsse und der Blitz den Falschen getroffen habe.
Bilal ist kein Mensch, mit dem man gerne aufwacht. Um sein Nachtlager türmt sich ein Wall aus schmutziger Wäsche und Essensresten, und Asis’ erste Aufgabe ist es, das Zimmer des Meisters in Ordnung zu bringen. Am frühen Morgen wirkt Bilal besonders unappetitlich, nicht nur, will er ein alter Mann ist, sondern weil er sich darüber hinaus um seine Körperpflege ebenso wenig kümmert wie um die Sauberkeit seiner Behausung.
Während des Unterrichts wechselt Bilal kaum ein Wort mit Asis. Mit einem alten Holzlineal schlägt er auf Asis Finger, wenn er sie nicht richtig auf die Saiten setzt, und nickt kaum merklich, wenn sein Spiel Fortschritte macht. Ansonsten bleibt sein Gesicht mürrisch und abweisend.
Dann wiederum, in Momenten, in denen Schweigen wohl täte, beginnt er zu fabulieren und zu schwätzen, sodass selbst ein so junger und unerfahrener Mensch wie Asis die Geschichten des Meisters kaum glauben kann. Er ahnt, dass sie vor allem der Einsamkeit entspringen. Wenn Asis nicht da wäre, würde Bilal sie trotzdem erzählen, dem Tisch oder der Lampe. Aber da der Meister ihn in diesen Phasen unaufhaltsamer Redseligkeit genau beobachtet, zwingt Asis sich, eine Miene der Gutgläubigkeit aufzusetzen.
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