Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
erzogen, obwohl sie ihr gesamtes Vermögen verloren hatte, als er noch sehr klein gewesen war. Er erinnerte sich noch, wie sie oben in einem muffigen Zimmer gehustet hatte, in dem der Gestank des Todes hing. Wenn er diesen Raum betrat, wusste er nie, was er zu erwarten hatte.
Sie hatte ihm eine »Arbeit« in Villjamur besorgt, und zwar über einen seiner zwielichtigen Onkel, der als Kaufmann auf Y’iren und Folke über gute Verbindungen verfügte, obwohl er seinen Reichtum nie mit ihnen geteilt und sich über Kapps gutes Aussehen stets so geäußert hatte, als handelte es sich um einen Nachteil im Leben. Dann hatte dieser Onkel Kapps Mutter erzählt, erst in der Vorwoche sei ein Bursche verschwunden, der so alt sei und so aussehe wie ihr Sohn. Randur Estevu habe er geheißen und demnächst im Palast des Kaisers angestellt werden sollen. Während der Festspiele auf der Insel war er sogar Kapps Rivale bei Tanzwettkämpfen und im Yuralris -Schwertkampf gewesen. Der junge Mann hatte sich viele Feinde gemacht, da er sich allzu oft gerühmt hatte, vor dem Großen Frost garantiert Zuflucht in Villjamur nehmen zu dürfen.
»Ihr Penner werdet alle erfrieren«, hatte der Kerl gesagt, »doch mir winkt eine feine Bude am wärmsten Ort des Kaiserreichs. Mehr kann ich leider nicht verraten, damit ihr meine Verbindungen nicht nutzt.«
Seine Leiche wurde auf einem verrottenden Schiff gefunden, das den Hafen von Geu seit einer Ewigkeit nicht verlassen hatte. Niemand war auch nur bestürzt über den Tod des Jungen. Das Interesse galt eher dem alten Kahn, da sich eine seemännische Prophezeiung zu bewahrheiten schien, die jemand eine Woche zuvor erwähnt hatte.
Daraufhin wurde Kapp zu Randur Estevu und floh mit gefälschten Papieren nach Süden in die Zufluchtsstadt.
Seine Mutter hatte ihm geraten, sein Glück dort zu suchen, wo die Familie eine Chance haben mochte, die Ankunft des Eises zu überleben. Er hatte keine Ahnung, was der wahre Randur Estevu in Villjamur hätte tun sollen, da dies aus den gestohlenen Unterlagen nicht hervorging. Außerdem hatte Randur, wie er sich fortan nannte, eigene Pläne.
Er fingerte nach der Münze, die die Kultistin ihm vor vielen Jahren in jener blutigen Nacht gegeben hatte.
Garudas dräuten oben auf den Zinnen neben dem letzten Tor, von wo aus es direkt in die Stadt ging. Sie standen mit verschränkten Armen da, halb Geier, halb Mensch: Flügel, Schnabel und Krallen an einem Menschenleib. Dazu ein Umhang und ein wenig Rüstung. Weiße Gesichter, die im grauen Licht zu leuchten schienen. Während seiner wenigen Tage bei einem auf Folke stationierten Regiment, in das er einer poetischen Anwandlung wegen eingetreten war (vor allem aber, um ein Mädchen zu beeindrucken, das nur aus sehnsüchtigen Blicken und sehr vagen Versprechungen bestanden hatte), hatten die Soldaten viel über die Fähigkeiten der Garudas gesprochen. Nur ein hervorragender Bogenschütze schien eine gewisse Chance zu haben, so ein Wesen vom Himmel zu holen.
Am ersten und zweiten Tor hatten die Soldaten seine Papiere überprüft. Am dritten Tor nun durchsuchten sie sein Gepäck, beschlagnahmten seine Waffen und befragten ihn beunruhigend eindringlich.
»Sele von Jamur!«, sagte Randur. »Was gibt es Neues in der Zufluchtsstadt?«
Ein Wächter erwiderte: »Um ehrlich zu sein, die Stimmung ist nicht gut. Die Menschen sind alles andere als froh. Man sieht viele unglückliche Gesichter, innerhalb wie außerhalb der Mauern. Da draußen verstehe ich das ja« – er wies auf die verschlossenen Tore, hinter denen sich die Flüchtlinge drängten –, »aber hier drin ziehen sie auch lange Mienen. Dabei sind die Leute hier doch in Sicherheit.«
»Vielleicht sitzt niemand gern fest, selbst wenn es zu seinem Besten ist«, gab Randur zu bedenken.
»Die können doch jederzeit das Weite suchen«, knurrte der Wächter. »Nein, dieses Wetter bringt mehr als nur Eis.«
Nach dieser letzten Kontrolle setzte Randur seinen Weg fort und gelangte schließlich in die Zufluchtsstadt.
Wer Villjamur errichtet oder zumindest seine komplizierten Formen und unheimlich präzisen Bauten entworfen hatte, war gewiss kein Mensch gewesen. Bemalte Kiesel prangten an protzigen Fassaden, während anderswo farbige Glasbausteine das Mauerwerk verzierten und wie gesprungene Edelsteine funkelten. Randur musterte all das ehrfurchtsvoll und wusste nicht recht, wohin er zuerst gehen sollte. Seine Möglichkeiten wuchsen exponentiell. Der Kälte verbreitende Regen
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