Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
ging in Nieseln über und hörte dann auf. In einer Seitengasse wurde Fisch gekocht. Vor seiner Nase warben zwei Schilder für Feuerholz. Aus den Fenstern eines Reihenhauses hängten Frauen Laken auf die Leine. Zwei junge Männer unterhielten sich in einer hiesigen Gebärdensprache. Vor ihm teilte sich die Straße, und beide Wege führten in sanftem Bogen hügelan, während Pterodetten vor den Klippen hochjagten, die sich weiter entfernt erhoben. Kinder schlitterten über kleine Eisflächen. Ein Paar schlenderte vorbei; die blonde Frau war erheblich jünger als der Mann, doch der Kleidung nach gehörten beide zu den »höheren Kreisen«. Randur war versucht, Blickkontakt zu der Frau aufzunehmen und ihr vielleicht eine Reaktion zu entlocken. Es schien ihm wichtig, aus dem Leben dieses Mannes ein Lächeln zu rauben. Aber nicht schon jetzt. Er war gerade erst angekommen. Und er musste eine Kultistin finden.
In einem Schlafzimmer im obersten Stockwerk eines der teuren Balkonhäuser, die die höheren Lagen Villjamurs schmückten, ruhte eine Frau mit vernarbtem Gesicht auf einem Mann, den seine sexuellen Anstrengungen zum Keuchen gebracht hatten.
Die beiden küssten sich, und ihre Zungen fanden einander, allerdings nur kurz, da dies nicht ganz richtig schien; sie war sich nicht sicher, wer von ihnen diesen Eindruck bewirkte. Sie löste sich von ihm, fasste seine Brust und begann mit seinen grauen Haaren zu spielen. Sein Gesicht war klein und hatte zarte Züge, und seine Hände waren rau, doch immerhin berührte er sie damit. Keiner von beiden hatte die Intimität durch Gerede verdorben, und dafür war jedenfalls sie dankbar. Unterdessen strich er immerfort ihre Flanken hinauf und hinab und rieb ihr mit den Daumen sanft über die Hüften, als hätte er ein besonderes Faible für die knochigen Vorsprünge ihres Körpers.
Sie beugte sich vor, bis ihr langes rotes Haar ihm ins Gesicht fiel. Sie wartete, bis er es beiseitestrich, und sah zu, wie die unvermeidliche Enttäuschung langsam aufschien. So war es in den letzten Jahren immer gewesen. Zuerst blieb sein Blick an ihren Augen haften. Dann sah sie deutlich, wie seine Pupillen die grässliche Verunstaltung ihrer nun klar sichtbaren Gesichtshälfte registrierten. Der hier reagiert nicht mal schlimm , überlegte sie. Bei ihrer Begegnung war er etwas betrunken gewesen und hatte rasch unscharf gesehen. Insgesamt allerdings hatte es sie enttäuscht, dass seine Erregung nur von kurzer Dauer gewesen war.
Es schien immer gleich auszugehen, wenn auch sie auf ihre Kosten kommen wollte – und das war schließlich etwas ganz anderes, als wenn sie es bloß des Geldes wegen tat. Ihr Beruf machte es ihr schwer, normale Männer zu treffen, und verhinderte jede echte Beziehung. Und die unübersehbare Entstellung ihrer rechten Gesichtshälfte war auch nicht eben hilfreich.
Aber es war ihr freier Abend, und sie hatte ein Techtelmechtel gewollt, um ihre Stimmung aufzuhellen. Wie sehr und wie lange hatte sie sich gewünscht, sich jemandem nah zu fühlen!
In ihren jungen Jahren hatte sie gewusst, dass die Welt grausam war und man nach dem ersten Eindruck beurteilt wurde. Und dass kindliche Vorurteile gegen das Unnatürliche im Erwachsenenalter anhielten und die Leute bloß Mittel und Wege fanden, ihren Ekel besser zu verbergen.
Sie löste sich langsam von ihm, griff nach dem Morgenmantel, ging ans Fenster und blickte über die Türme und Brücken Villjamurs, als wollte sie die denkbar größte Distanz zu ihrem Liebhaber gewinnen. In der anderen Ecke des Zimmers lehnten verhüllte Leinwände verschiedener Größe an der Wand. Die Farben des Bildes, das sie am Vorabend zu malen begonnen hatte, waren noch zu riechen.
»Unglaublich«, sagte er schließlich. »Bei Bohr, du bist fantastisch!«
Sie betrachtete den wie zerschrammt wirkenden Himmel über der Stadt und sah die letzten Tröpfchen auf die Gebäude niedergehen. Als sie das Fenster aufschob, hörte sie einen Karren übers Pflaster rumpeln und roch die Lärchen des Waldes im Norden. Sie blickte erst die Cartanu Gata, dann die Gata Sentimental entlang, wo sich die Kunstgalerie befand; ein Ort, an dem ihre Bilder wohl nie hängen würden. Die Leute verschwanden dort unten geradezu im Schatten. Direkt unter ihrem Fenster torkelte ein Mann immer aufs Neue in ihr Gesichtsfeld, um gleich darauf wieder mit dem Schatten zu verschmelzen, und sein Schwert kratzte dabei ständig an der Mauer. Aus einem ihr unerfindlichen Grund steigerte all dies
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