Die Legende der Wächter 5: Die Bewährung
kümmern würden als wir.“
„Aber was passiert denn nun beim Zerspringen?“, wollte Otulissa wissen.
„Tja, das ist noch komplizierter als höhere Magnetkund e – jaja, damit kennst du dich hervorragend aus, Otulissa. Aber ohne das Buch weiß ich nicht, wie ich es euch erklären soll.“
Otulissa ließ sich nicht abwimmeln. „Hat Zerspringen denn etwas mit Magnetkraft zu tun?“
„Allerdings. Im Gehirn jeder Eule gibt es bekanntlich winzige magnetische Teilche n – man nennt sie auch Eisenoxide. Diese Teilchen helfen uns beim Navigieren, weil sie sich unmittelbar nach dem Magnetfeld der Erde ausrichten.“
Primel war dazugekommen. Auch sie lauschte gespannt.
„Stellt euch nun einmal vor, dass diese Teilchen durcheinandergeraten. Ist eine Eule dem übermäßigen Einfluss von Tupfen ausgesetzt, beeinträchtigt das nicht nur ihren inneren Kompass, so wie es mir passiert ist, sondern auch andere Organe werden geschädigt, vor allem der Muskelmagen. Er versteinert sozusagen, kann keine Gefühle mehr verarbeiten. Es kann sogar zu Wahnvorstellungen komme n – und das nennt man dann Tupfitis. Zerspringen ist die unerwünschte Begleiterscheinung von Tupfitis.“
„Gibt es hier in der Bibliothek denn noch andere Bücher über die Temperamente und die Quadranten von Hirn und Magen?“, fragte Otulissa.
„Komm mit.“ Ezylryb führte die Fleckenkäuzin zu einem Regal ganz hinten in der Bibliothek. Die vier anderen waren nicht gekränkt, sie waren nicht so wissbegierig wie Otulissa. Soren war froh, dass Ezylryb sich eingemischt hatte. Wenn Otulissa sich mit Tupfitis beschäftigte, vergaß sie vielleicht ihren Plan, die Reinen anzugreifen. Otulissa war fest davon überzeugt, dass die Feinde zurückkehren würden, aber das Parlament zu einem Gegenangriff zu überreden, würde ihr trotzdem nicht gelingen. Es war nicht die Art der Wächter von Ga’Hoole, andere Eulenvölker zu überfallen, schon gar nicht mit einem solchen Riesenheer, wie Otulissa es aufstellen wollte.
„Kann ich auch mal einen Blick in das Buch werfen?“, erkundigte sich Primel.
Otulissa war sichtlich verwundert, und auch die anderen staunten unverhohlen, denn Primel las eigentlich nicht gern. „Klar“, erwiderte Otulissa höflich.
„Ich will nur kurz reinschauen“, sagte Primel.
Als die Eulen ihre Schlafhöhlen aufsuchten, war die Sonne längst aufgegangen. Eglantine war rechtschaffen müde, weil sie einen Langstreckenflug hinter sich hatte. Madame Plonk hatte bereits „Die Nacht ist um“ angestimmt, und als sie zur zweiten Strophe kam, war Eglantine eingeschlummert.
Primel huschte auf ihr Lager. Sie war noch lange bei Otulissa in der Bibliothek geblieben. Obwohl Primel leise gewesen war, wachte Ginger auf.
„Wo warst du denn?“
„Hab noch gelesen.“
„Muss ja spannend gewesen sein.“
Zum zweiten Mal in ihrem Leben log Primel dreist: „Ich hab in den Witze- und Rätselbüchern geblättert, die sich Eglantine doch so gern anschaut.“ Sie zwinkerte Ginger zu und fuhr verschwörerisch fort: „Hoffentlich ist Eglantine wieder so weit gesund, dass sie nicht mehr träumt. Sie behauptet ja, es seien schöne Träume, aber ich weiß nich t … sie wird jedes Mal ganz unruhig.“
„Ich weiß, was du meinst. Manchmal stehe ich auf und streichle sie. Dann beruhigt sie sich.“
„Das ist lieb von dir, Ginger.“ Primel machte sich Vorwürfe. Ich muss wirklich netter zu ihr sein. Sie gibt sich redlich Mühe. Außerdem ist bald Nimsi-Nacht. Wenn die Nächte erst wieder länger wurden, hob sich auch Primels Stimmung. Allen Eulen ging das so. Madame Plonk war bei der letzten Strophe angekommen:
Bei dir sind wir geborgen
Vom Abend bis zum Morgen.
Nun aber ist die Nacht vorbei,
Auf unsrem Baume sind wir fre i –
Wir wissen ja:
Glaux ist nah!
Primel schlief ein. Gegen Nachmittag hörte sie es rascheln und öffnete ein Auge. Ginger beugte sich über Eglantine. Oj e – Eglantine hat wieder geträumt und Ginger beruhigt sie. Primel gähnte und schlief weiter.
Eglantine träumte. Sie hatte sich endlich getraut, den Kopf durch den Moosvorhang zu stecken. Das Eulenweibchen in der Höhle sah von hinten genau wie ihre Mutter aus. Eglantine wollte eben „Mama!“ rufen, da drehte sich das Eulenweibchen um. J a – es war ihre Mutte r – oder doch nicht? Ihr Gesichtsschleier war weißer als der von Marella und quer über ihr Gesicht zog sich eine schmale Narbe.
„Ich habe die ganze Zeit auf dich gewartet!“
„Ehrlich?“
„Aber
Weitere Kostenlose Bücher