Die Legende der Wächter 8: Die Flucht
nicht sein. Es war wie ein Lied. Ihr Herz hämmerte den Takt dazu, ihre Beine bewegten sich im Rhythmus und ihr Fell wehte im Wind. Ihre Augen glichen zwei grün lodernden Sternen und ihr Zorn feuerte sie an. In dieser Nacht war Gyllban die zornigste Wölfin in den ganzen Hinterlanden. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Sie hatte schon ihren Sohn verloren und ihren Gefährten. Wenn sie auch noch den Schutz ihres Clans verlieren sollte, war das nicht zu ändern.
Der Fluss war zugefroren. Wenn das Eis nicht trug, würde sie schwimmen. Sie war nicht nur eine schnelle Läuferin, sondern auch eine ausgezeichnete Schwimmerin. Sie brach erst dicht vor dem gegenüberliegenden Ufer ein und kletterte sofort an Land. Um das Wasser aus ihrem Pelz zu drücken, wälzte sie sich auf der Erde. Als sie auf dem Rücken lag, sah sie auf dem Felsen über sich eine Eule sitzen. Nicht irgendeine Eule, sondern ihn – Nyras Sohn, Coryn.
„Ich dachte schon, du wärst meine Mutter“, sagte der junge Eulerich.
Die Wölfin sah ihn verständnislos an.
„Ach, nicht so wichtig. Ich habe ein Rascheln gehört und einen Schreck bekommen. Was machst du hier?“
Gyllban hatte Mühe zu antworten, weil sie so außer Atem war. Derart schnell war sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gelaufen.
„Deine Mutter, die Oberbefehlshaberin der Reinen, sie will …“, Gyllban rang nach Luft, „… sie will dich töten. Sie wird bald hier sein. Du musst dich beeilen … du musst die Glut bergen … die Glut von Hoole.“ Bei jedem Atemzug spürte die Wölfin ein Stechen in der Brust.
„Ruh dich doch erst einmal aus, bis du wieder richtig sprechen kannst“, sagte Coryn besorgt.
„Keine … keine Zeit. Du musst handeln! Deine Mutter will die Glut rauben und meinem Clan bringen, das hat sie unserem Anführer versprochen. Dann wären die MacHeath der mächtigste aller Wolfsclans. Zum Dank hat der Clanführer deiner Mutter zugesagt, dass die MacHeath mit ihr und ihren Eulen ein Bündnis eingehen. Deine Mutter will Herrscherin über die ganze Eulenwelt werden.“
„Warum erzählst du mir das alles? Du bist doch selbst eine MacHeath.“
„Die Wölfe aus meinem Clan haben mir meinen Sohn weggenommen und ihn verstümmelt. Nur damit in der Heiligen Garde auch ein MacHeath dient, haben sie ihm die Zehenballen und den Schwanz abgebissen. Da ist es ja wohl kein Wunder, dass ich nur noch Abscheu für meinen Clan empfinde, oder? Wenn deine Mutter ihre Pläne in die Tat umsetzt, werden sich die MacHeath noch rücksichtsloser aufführen als jetzt schon.“
„Ist Cody etwa dein Sohn?“
Gyllban nickte. Speichel tropfte ihr in langen Fäden aus dem Maul, aber sie konnte wieder einigermaßen zusammenhängend sprechen. „Cody ist mein Sohn, aber er weiß es nicht. Ich durfte ihn nicht großziehen. Doch das spielt jetzt keine Rolle. Die Glut … Du musst die Glut bergen! Das ist deine Bestimmung. Ich weiß es.“ Coryn schaute Gyllban tief in die Augen. Sein eigenes Spiegelbild blickte ihn an. Er las Furcht in seinem Gesicht, aber auch Entschlossenheit. Und er glaubte, was er in den grünen Augen der Wölfin sah.
Dem Anschein nach war es eine Nacht wie jede andere. Der Wind fegte durch den Vulkankreis. Rötliche Funken und weiße Schneeflocken vereinten sich in einem wilden Tanz, der vom Fauchen der Lohe über den Kratern begleitet wurde. Unten am Fuß der Vulkane handelten Schmiede und Glutsammler miteinander. Die Wölfe der Heiligen Garde liefen Wache. Die dienstälteren Wachen auf den hohen Knochenhügeln heulten einander verschlüsselte Warnungen und Befehle zu. Ein paar besonders wagemutige Eulen ritten auf den heißen Luftströmen und versuchten Coryns kühnen Flug nachzuahmen.
Niemand achtete auf den jungen Schleiereulerich, als er vom Fluss zurückkehrte. Coryn flog erst einmal über den ganzen Vulkankreis und dann nacheinander um jeden einzelnen Berg herum.
Gyllban lag hinter einem Knochenhügel und betrachtete die Gebeine, aus denen der Hügel errichtet war. Hier waren große Künstler am Werk gewesen. In einen Knochen war das Bild eines Wolfsvogels genagt. Man erkannte jede noch so kleine Feder. War das Schicksal ihres Sohnes wirklich so schrecklich? Auch er würde ein Künstler werden und außerdem zu den stärksten Wölfen der Welt gehören. Andererseits durfte er nie eine Familie gründen und musste ohne den Rückhalt eines Clans auskommen.
Gyllban blickte zu den Sternen hoch. Was nutzte es den Knochennagern, dass sie nach ihrem Tod
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