Die Legende der Wächter 8: Die Flucht
von Ambala. Von Nebel hatte er sich schon vorher verabschiedet. Sie traute sich den weiten Flug nicht zu.
„Glauxglück!“, rief Blitz und die stumme Donner nickte energisch. Zwei weitere Flugschlangen hatten sich zu Stingill und Slinella gesellt. Zusammen schrieben sie an den mondhellen Himmel:
Dabei bedeutet ihnen Glaux doch gar nichts! Wie lieb von ihnen, mir auf Eulenart alles Gute zu wünschen, dachte er.
Coryn flog nach Westen. Das Sternbild des Kleinen Waschbären schlüpfte soeben aus seinem Bau unter dem Horizont und kletterte am Himmel empor. Coryn musste sich zwei Grad westlich der Backbord-Vorderpfote halten. Ein Glück, dass Nebel ihm das Navigieren beigebracht hatte! Die Reinen flogen überwiegend nach Gefühl.
Coryns Kurs führte ihn erst über die Ödlande und dann am Rand des Silberschleier-Waldes entlang. Hinter dem Wald musste er nach Nordnordwest beidrehen und dann immer geradeaus fliegen. Er würde lange unterwegs sein, weil der Wind um diese Jahreszeit oft aus einer ungünstigen Richtung kam. Außerdem wollte Coryn aus Furcht vor Krähenangriffen nicht tagsüber fliegen. Einem solchen Angriff wären er und Philipp bei ihrer Flucht vor den Reinen beinahe zum Opfer gefallen.
Coryn würde auch allen fremden Eulen ausweichen, denn in seinem Reisegebiet waren Trupps der Reinen gesichtet worden. Andere Eulen würden ihn ohnehin als Ausgestoßenen betrachten, mit dem sie nichts zu tun haben wollten.
Er musste sich erst noch als Coryn beweisen und deshalb auch eine Zeit lang außerhalb der Gemeinschaft leben. Er durfte kaum hoffen, jemals im Großen Baum aufgenommen zu werden. Trotzdem war es sein sehnlichster Wunsch. Er sehnte sich nach den Klängen der großen Harfe, durch deren Saiten sich die Blindschlangen wanden. Er brannte darauf, das Parlament zu sehen, in dem sich die klugen, edelmütigen Eulen zu ihren Ratssitzungen versammelten. Er träumte von dem Festsaal, in dem die Wächter tanzten. Aber vor allem wollte er in die berühmte Bibliothek und dort bergeweise Bücher verschlingen. Auch wenn alles ihn zum Großen Baum zog, flog er genau in die entgegengesetzte Richtung. Doch sein Magen sagte ihm, dass er richtig entschieden hatte.
Vier Nächte war er nun schon unterwegs und der volle Mond schwand bereits wieder. Wenn die herbstlichen Nordwinde noch auffrischten, würde der Mond bei Coryns Ankunft in den Hinterlanden kaum noch zu sehen sein. Doch erst einmal musste er die Ödlande überfliegen. Ihre Ausläufer lagen schon unter ihm.
Auf der Flucht vor seiner Mutter war er schon einmal hier vorbeigekommen. Unter ihm ragte der Felsen auf, auf dem er damals gerastet hatte. Ein Höhlenkauzmädchen hatte ihn mit seiner Mutter Nyra verwechselt und war zu Tode erschrocken. Die Kauzmutter war aus dem Bau gekommen und beide Käuzinnen waren in hysterisches Geschrei ausgebrochen. Coryn hatte ihnen nicht begreiflich machen können, dass er nicht Nyra war. In jenem Moment war ihm zum ersten Mal richtig klar geworden, was die Narbe in seinem Gesicht bedeutete.
Als er jetzt über den Bau der Höhlenkäuze hinwegflog, drangen angsterfüllte Stimmen zu ihm herauf – wie ein Echo der panischen Schreie von damals.
„Sie ist weg, sagst du? War das Nyra?“ Die schrille Stimme überschlug sich.
„Aber wie kann das sein?“
„Nein, es war nicht Nyra, sondern ein Männchen. Ich hatte solche Angst, Mama! Der fremde Eulerich hat gedroht, mich zu töten.“
„Was? Gütiger Glaux, wo soll das alles bloß noch hinführen?“
Erst jetzt begriff Coryn, dass er die Stimmen nicht nur in Gedanken hörte, sondern in Wirklichkeit. Mit seinen feinen Schleiereulen-Ohren konnte er beinahe jedes Wort verstehen. Er drehte lauschend den Kopf hin und her, als würde er unten am Boden eine Wühlmaus verfolgen. Anscheinend war den Höhlenkäuzen etwas Furchtbares zugestoßen. Da wandte sich die Mutter schluchzend an ihren Mann: „Was sollen wir jetzt bloß tun, Harry?“ Als Coryn den Namen hörte, wusste er, dass es seine alten Bekannten waren.
Aber was war diesmal passiert? Weil sich die Höhlenkäuze unter der Erde aufhielten, konnte Coryn ruhig in den Sinkflug gehen und über dem Bau kreisen. Er bündelte den Schall mit seinem Gesichtsschleier und leitete ihn an seine Ohrschlitze weiter. So machte er sich ein Bild von der Situation bei den Käuzen.
Die Reinen hatten der Familie ein Küken im Ei, kurz vor dem Schlüpfen, geraubt. Sie waren hier! Coryn lauschte noch angestrengter. Vielleicht kannte er den
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