Die Legende der Wächter 8: Die Flucht
wenn wir erst einmal in die Schlacht fliegen!“
Coryn saß in Windrichtung der drei Wachen auf einem Baum. Er verließ sich darauf, dass der Wind seine Geräusche fortwehte, während er ihm die Unterhaltung der Wachen zutrug. Aber er hörte noch etwas anderes: die Laute aus den Eiern. Die Küken waren kurz davor zu schlüpfen. Es konnten höchstens drei, vier Eier sein. Leider wusste er immer noch nicht, welches davon das Höhlenkauz-Ei war. Er musste weiter lauschen. Vielleicht schnappte er ja einen Hinweis auf.
Bei den drei Wachen handelte es sich um junge Tyto alba . Demnach waren sie in der Ausbildung zum Offizier und gehörten nicht den untersten Rängen an wie damals Coryns Freund, der Rußeulerich Philipp. Und die drei waren unruhig, auch der, der seine Kameraden zurechtgewiesen hatte. Auch sein Herz klopfte viel zu schnell.
Coryn drehte immer wieder den Kopf, damit ihm auch ja kein Laut entging. Was die Eier betraf, konnte er inzwischen drei verschiedene Herztöne unterscheiden. Es war kein abgehackter Rhythmus, sondern eher ein Rauschen. Doch was war das? Kam vom Boden unter dem bewachten Baum noch ein vierter Küken-Herzton? Coryn hielt den Atem an und lauschte, als wäre sein ganzer Körper ein einziges großes Ohr. Dann riss er staunend die Augen auf. Unter dem Baum ist noch ein Ei! Es hört sich an, als läge es in einer abgedeckten Grube … Das muss das Ei der Höhlenkäuze sein!
„Hast du auch was gehört, Flint?“
„Nö. Ihr beide seid viel zu schreckhaft.“
„Es … es hat sich angehört wie ein ganz leiser Luftzug.“
„Ach nee! Schon mal gehört, dass auch im Wald ein Wind geht?“
„Doch. Aber es hat sich irgendwie anders angehört.“
Coryn flog noch zweimal über dem Baum mit dem Eierlager hin und her. Er hörte, wie den drei Wachen das Herz bis zum Hals schlug. Jetzt! Coryn ging in den Sinkflug und flog vor der Baumhöhle auf der Stelle. Im selben Augenblick riss die Wolkendecke auf und ein dunstiger Mondstrahl bahnte sich seinen Weg durch die Baumkrone.
„Da ist Nyra!“, rief einer der drei Rekruten aus.
„Nein, ich bin nicht Nyra! Ich bin ihr Dämon und ich komme euch holen!“ Coryn kreischte heiser:
Ich schleppe euch nach Hägsmir
Und hack euch kurz und klein –
Und wenn ihr wieder zu euch kommt,
Müsst meine Sklaven ihr sein.
Dann macht ihr, was ich will,
Und wer sich mir widersetzt,
Wird von mir verfolgt
Und zu Tode gehetzt!
„Glaux, hilf! Rette uns, Glaux!“, wimmerte Flint.
„Wären wir doch bei unseren Eltern geblieben!“
„Ich kann nichts dafür! Ich wurde entführt!“
Die drei Wachen ergriffen panisch die Flucht. Es hatte geklappt!
Coryn schüttelte den Flechtenumhang ab. Nie hätte er gedacht, dass die Verkleidung so gut wirken würde. Er landete am Fuß des Baumes und befreite die Mulde behutsam von ihrer Blätterabdeckung. Dann lag das Ei vor ihm – makellos gerundet und schneeweiß glänzend. Nur ein paar Krümel Erde aus den Ödlanden klebten noch an der Schale.
Coryn nahm das Ei mit größter Vorsicht in die Zehen und schwang sich mit zwei kräftigen Flügelschlägen in die Luft. Es tat ihm leid, dass er die drei anderen Eier nicht auch retten konnte, aber er hatte ohnehin keine Ahnung, wo sie herstammten.
Jetzt musste er schleunigst verschwinden, bevor Stürmer und Wortmore zurückkamen. Der Wind hatte sich gedreht. Auf dem Rückweg in die Ödlande würde Coryn dagegen anfliegen müssen. Außerdem wurde es bald hell, aber auch das durfte ihn nicht hindern.
Leider hatte der Wind die schützenden Wolken vertrieben. Coryn konnte nur hoffen, dass er keinem von den Reinen begegnete. Hätte er vielleicht besser sein Dämonenkostüm anbehalten sollen? Nein, sicher nicht, die Flechten hätten ihn bei diesem Gegenwind nur behindert. Coryn hörte das Plätschern des Eidotters und die Herztöne des Kükens jetzt noch deutlicher. Wie kostbar doch so ein junges Leben war! Undenkbar, dass es beinahe von den Reinen zerstört worden wäre. Denn auch wenn das Küken unversehrt geschlüpft wäre, so wäre sein Schicksal in den Krallen der Reinen schlimmer gewesen als der Tod.
Coryn schlug kräftiger mit den Flügeln. Er staunte darüber, wie schnell er das Ei ins Herz geschlossen hatte. Zugleich wurde ihm etwas anderes klar: Liebe konnte auch bedeuten, etwas loszulassen, es dort zurückzulassen, wo es hingehörte. War das etwa von nun an sein Schicksal? Coryn hatte Philipp geliebt und er hatte auch Blitz, Donner und Nebel und die beiden Flugschlangen
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