Die Legende unserer Väter - Roman
getragen worden. Er habe alles überden Krieg, die Résistance, den Widerstand im Norden gelesen. Er habe sich mit Sabotageakten, entgleisten Zügen, von zittriger Hand erschossenen deutschen Soldaten beschäftigt. Er habe alles über Fluchtwege und die verwundeten Wimpys verschlungen, die versteckt, ernährt und heimlich über die vom Feind gezogenen Grenzen gebracht werden mussten. Er habe von Ascq gehört. Die Namen der Partisanen und die der Opfer gefunden. Wie oft er im Museum von Bondues gewesen sei! Und den geweihten Hof betreten habe, in dem achtundsechzig Patrioten nacheinander gefallen seien. Er habe nichts übertrieben. Er habe nichts Falsches behauptet. Seit er das Zimmer seiner Tochter verlassen habe, habe er nicht mehr gelogen. Er habe Splitter fremder Tapferkeit und fremder Heldentaten gesammelt, damit Lupuline deren Andenken bewahre. Er habe ein paar Männer beklaut, aber er sei in die Haut des einen, den Mut eines anderen, den Schmerz eines dritten geschlüpft, um sie alle drei wieder zum Leben zu erwecken. Er sei also nicht bloß die Summe seines Verzichts, sondern auch die ihrer Heldentaten. Er habe ein Leben mehr gelebt und ihnen die Ehre erwiesen. Und würde sich für den Rest seines Lebens, bis zu seinem letzten Atemzug, fragen, was er getan hätte, wenn er zwei gesunde Beine gehabt hätte.
Das hatte er mir gerade gesagt, an seiner Tür, mit meiner Hand in der seinen. Das würde er am Tag der Wahrheit sagen. Das würde Lupuline von ihrem Vater zu hören bekommen. Dann würde sie womöglich ihre Idee mit der Biographie bereuen. Und mir Vorwürfe machen. Mich dafür hassen, dass ich sie weder schonen noch beruhigen konnte. Ich sah sie vor mir bei diesem Trauermahl. Nach dem Abgang der anderen, den Kopf in den Händen, ein verratenes kleines Mädchen.Verraten vom Vater, von mir, vom kränkenden Leben. Der hochstaplerische Name Beuzaboc hätte seinen Sinn verloren. Taugte nicht für den Frieden und nicht für den Krieg.
Das malte ich mir aus, während ich durch mein Wohnzimmer ging, durch mein Büro, mein Schlafzimmer. Ich wanderte von einem Raum zum andern, das Wasserglas in der Hand.
»Ich vertraue Ihnen«, hatte Beuzaboc gesagt. Aber Lupuline hatte ihm auch vertraut. Ich hatte ihm vertraut. Was hatte dieses Vertrauen denn für eine Bedeutung?
19
Ich traf Lupuline zufällig am nächsten Samstag. Sie war in der Rue de Béthune einkaufen, kam gerade aus einem Geschäft und rief meinen Namen. Nachts hatte es geregnet, es war nicht mehr so heiß. Wir standen mitten auf dem Trottoir. Sie redete viel. In ihren Augen lag eine Art kindlicher Freude. Ihrem Vater gehe es gut. Gestern seien sie sogar durch die Stadt spaziert. Er wirke glücklich und ruhig. Wenn wir uns hier nicht zufällig getroffen hätten, wäre sie zu mir gekommen. Sie habe nachgerechnet: Es seien neun Sitzungen gewesen, und sie habe mir erst zwei bezahlt. Das sei ihr peinlich. Sie schlug vor, etwas trinken zu gehen und meine Rechnung zu begleichen. Mir war das unangenehm. Aber ich folgte ihr. Nun wusste ich, dass Beuzaboc ihr nichts gesagt hatte. Lupuline hatte ihm ein paar Fragen gestellt auf dem Spaziergang, und er war ihr die Antwort schuldig geblieben.
»Du wirst schon sehen. Bald kannst du es lesen.«
Ich hatte mir ein Bier bestellt, Lupuline trank
café frappé
. Sie stellte mir einen Scheck aus. Schaute mich an und fragte, ob alles in Ordnung sei.
»Ja, ja«, sagte ich.
Meine Antwort kam zu schnell, zu ängstlich, zu dringlich, was sonst nicht meine Art war.
»Stimmt etwas mit dem Scheck nicht?«
Ich winkte ab. Doch, doch. Die Rechnung stimmte. Es habe nichts mit dem Scheck zu tun. Ich machte mir Sorgen, murmelte ich. Ich hätte wohl irgendeinen Infekt. Schmerzen, rechts, zwischen Hüfte und Lunge. Und seit ein paar Tagen einen hartnäckigen, dummen Husten und Schweißausbrüche, die ich nicht loswürde. Es klang wie eine fiebrige Entschuldigung. Ich erzählte ihr auch, dass ihr Vater mich dazu gebracht hatte, von meinem Vater zu sprechen. Dass ich davon verwirrt sei. Ständig daran denken müsse. Und dass er vielleicht, als er das hörte, den Sinn meiner Arbeit verstanden habe. Übrigens hatte der alte Mann am Vorabend lange mit seiner Tochter telefoniert. Ihr erzählt, dass die Biographie fast fertig sei. Ein, zwei, drei Sitzungen noch, aber sie stehe schon. Die Spannung zwischen uns habe sich verflüchtigt. Ich sei nicht mehr so drängend und freundlicher. Er sei irgendwie beruhigt. Er habe alle Fensterläden und
Weitere Kostenlose Bücher