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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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alle Fenster seiner Wohnung geöffnet. Damit die erfrischende Nachtluft hereinkommen könne. Ich trank mein Bier in einem Zug aus. Ich fühlte mich in Lupulines Gegenwart nicht wohl. Ich betrachtete ihre weiße Haut, ihre himmelblauen Augen, die grauen Haare im gepflegten Pagenschnitt. Betrachtete ihre Hände. Sagte irgendetwas. Ich musste nach Hause. Das alles war falsch. Ich hatte das Gefühl, zu ersticken. Sie hörte nicht auf zu lächeln. Ihr Vater wolle vor der Drucklegung nichts mehr lesen. Er habe beschlossen, seine Biographie gleichzeitig mit den anderen zu entdecken. Und sie wolle auch nichts mehr hören.
    »Er vertraut Ihnen, und ich auch«, lächelte Lupuline.
    Ich nickte. Vertrauen. Ich machte mir Vorwürfe, hier zu sitzen und ihr ins Gesicht zu lügen.
    »Ich habe auch erfahren, dass wir einander schon früher einmal begegnet sind.«
    Mein Blick glanzlos.
    »Beim Begräbnis Ihres Vaters.«
    Ich lächelte vage.
    »Papa hat kein Begräbnis eines Widerständlers versäumt. Selbst wenn er ihn gar nicht kannte. Es muss jemand am Grab stehen, damit es nicht so traurig ist, hat er immer gesagt. Deshalb hat er mich auch mitgenommen.«
    Ich stand auf. Sie war überrascht.
    »Sie sehen gar nicht gut aus.«
    Mir gehe es auch nicht gut, sagte ich. Ich würde mich gleich hinlegen, wenn ich nach Hause käme. Selbst niedriges Fieber mache mir sehr zu schaffen, und diesmal komme es mir richtig hoch vor. Nun stand sie auch auf.
    »Haben Sie eigentlich schon einen Titel?«
    »Délivrances«, sagte ich.
    Das war die erste, vom Fieber diktierte Idee, die mir einfiel.
    »Im Plural«, fügte ich auf gut Glück hinzu.
    Lupuline lächelte.
    »Délivrances?«
    »Ja, weil es so viel umfasst: Lille-Délivrance, den bombardierten Bahnhof, die Befreiung …«
    Und Erlösung, Auslieferung, Entbindung. Schließlich war Ghesquière ein Bein losgeworden. Und Beuzaboc seinen Namen.
    Sie nickte, immer noch lächelnd, und sagte: »Ein guter Titel.«
    Dann ließ sie mich stehen und verschwand in der Menge.

20
    Ich wurde tatsächlich krank. Bekam eine Lungenentzündung. Blieb sechs Tage im Bett und stand nur auf, um den zwei Freunden, die mir etwas zu essen brachten, wenn sie das Haus verließen, die Tür zu öffnen. Die beiden waren Luc Théry, ein Journalistenkollege, und Anne Tiberghien, eine Exfreundin, die immer gern mit der Zeitung, Tabletten aus der Apotheke, frischem Obst und einem absichtlich verrutschten Träger die drei Etagen zu mir heraufkam. Ich sagte kein Wort. Öffnete nur die Tür und legte mich wieder hin. Außerdem kam um 16 Uhr eine Krankenschwester und gab mir eine Spritze. Einmal in die linke, am nächsten Tag in die rechte Pobacke. Mit ihr sprach ich auch nicht. Ich wartete nur darauf, dass sie wieder gingen. Ersehnte den Moment des Alleinseins in meinem nassgeschwitzten Bett, in der rauschenden Stille des Fiebers.
    Nach einer Woche setzte ich mich auf, zwei Kissen in den Rücken gestopft. Legte meine »Beuzaboc«-Hefte, den blauen und den roten Stift auf den Nachttisch. Der Laptop blieb zu und auf dem Boden. Ich trank viel Wasser und las meine Mitschrift noch einmal von vorn. Diesmal kreiste ich die nichtssagenden Phrasen, die bedeutungslosen Wendungen ein.
    Ich zitterte. Das war nicht nur das Fieber. Ich fühlte mich wie erleuchtet. Beuzaboc hatte gelogen und baute jetzt darauf,dass ich der Wahrheit ans Licht verhalf. Aber welcher Wahrheit? Aus welchem Recht? Was sollte ich enthüllen? Dass er während des großen Dramas weggeschaut hatte? Dass er sich vier Jahre lang an den Mauern entlanggedrückt hatte? War es das? Wollte er beichten? Um Verzeihung bitten? Und dann? Aufatmen? Seine Seele erleichtern? Mit einem Liedchen auf den Lippen fürbass schreiten? Was wollte er? Mit klarem, freiem Blick anderen die Hand geben können? In Ruhe gehen, seinen Frieden machen mit all den in Stein gravierten Namen? War es das, was er wollte? Frieden?
    Ich beschloss, meinen Beruf aufzugeben. Ich wollte nicht mehr Biograph sein. Niemand sollte mehr mit meiner Stimme sprechen. Während des letzten Treffens mit Beuzaboc hatte ich nicht einmal mehr mitgeschrieben. Ich war mit meinen Gedanken ganz woanders gewesen. Hatte mein Leben und Schreiben Revue passieren lassen. Die Geschichte und das Schweigen meines Vaters. Diesen Schmerz trug ich schon seit so langer Zeit in mir. Ich wusste, die Zeit war reif.
    Ich schluckte zwei Tabletten gegen das Fieber. Verschüttete Wasser, das mir über Kinn und Hals ins Bett rann. Warum sollte Beuzaboc

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