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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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das Rumpeln der Autos, die Rufe der Zeitungsverkäufer, ein paar eilige Passanten. Ich hatte der Fälschung Farben verliehen. »Niemand hatte den Schuss gehört. Der Soldat fiel einfach rücklings von der Plattform, fast langsam. Als ob er über eine Stufe gestolpert wäre. Ich sah, wie ein anderer Deutscher ihm lachend die Hand hinstreckte. Ich hatte einen Menschen getötet, und sein Freund lachte. Dann steckte ich die Pistole in meinen Gürtel und fuhr davon.« Ich lachte. Kein schönes Lachen, hässlich und nervös. »Es war dunkel geworden. Ich hatte eine Kerze angezündet, damit uns das Licht unter der Tür nicht verriet. Wimpy und ich saßen im Stroh. Ich lehrte ihn Französisch. Einfache Wörter. Er sprach mir nach: Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit. Ich flüsterte in diese feindliche Dunkelheit, sah den funkelnden Blick des Engländers, seine karottenroten Haare und seine Lippen, die sich an meiner Sprache abmühten, und mir brach das Herz.« Ihm brach das Herz! Ich lachte noch einmal. Sollte ich diese Passagen behalten, als Fußnoten am Ende unterbringen, als Teile eines Dossiers veröffentlichen, als anrührende, pathetische Dokumente bewahren? Oder sie einfach vergessen? Aus der gemeinsamen Erinnerung tilgen, um den alten Mannnicht noch mehr zu verletzen? Ich betrachtete die Illusionen auf meinem Bildschirm. Nein. Ich musste ganz von vorn anfangen, vom ersten Wort an jeden Satz überarbeiten. Oder nur von Annequin erzählen. Das war es. Die Fahrradfahrt, der herbstliche Blumenstrauß, Ende. Ich dachte an Lupuline. Ihr Vater wollte die Wahrheit, sie wünschte sich die Schimäre ihrer Kinderheit. Warum hatte sie mich gebeten, sie zu schonen, sie zu beruhigen?
    »Was machen wir nun, Herr Biograph?«
    Woher sollte ich das wissen? Ich stellte mir Lupuline und die paar Freunde bei dem Abendessen vor, zu dem Beuzaboc sie einladen wollte. Rechts von jedem Teller, neben der gefalteten Serviette, ein Geschenk für jeden. Nach dem Aperitif würde ausgepackt. Ein paar Ausrufe der Überraschung und erfreute Blicke.
    »Du hast ein Buch geschrieben?«, könnte ein alter Freund fragen.
    »Nicht ganz, ich habe erzählt, und ein Profi hat es in diese Form gebracht.«
    »Ist ja toll!«, könnte eine kleine Dame am Ende des Tisches bemerken.
    Lupuline würde an der Seite ihres Vaters sitzen. Sie hielte das Werk in Händen, noch in dem Papier mit dem Fantasiemuster verpackt, und sähe den anderen lächelnd beim Auspacken zu.
    Beuzaboc würde sagen: »Es war die Idee meiner Tochter.«
    Ein rechteckiger Tisch mit elf, zwölf Leuten drum herum. Als Erster hätte ein alter Freund den Einband mit Beuzabocs Namen in großen blauen Lettern und dem Titel, den ich noch nicht wusste, entdeckt. Und applaudiert. Und alle hätten sichangeschlossen. Lupuline würde sich erheben, sich über ihren Vater beugen, ihm den Arm um die Schulter legen und mit Tränen in den Augen »mein Papa« flüstern. Und Beuzaboc, mein alter Fälscher? Würde ruhig, wenn auch voller Angst, die Hände neben dem Teller geballt, den Anfang vom Ende von allem erwarten. Vor dem ersten Kapitel, vor Annequin, vor meinem langen Absturz in den Zweifel, vor meinen Nachforschungen und seinem Geständnis im Kinderzimmer stünden ein paar Sätze von mir. Zur Einleitung, zur Warnung. Eine halbe Seite mit der Bitte an alle, dass sie versuchen sollten zu verstehen, statt gleich ein Urteil zu fällen. Und dann? Würde Lupuline auf ihren Stuhl zurückfallen. Grau und weiß und müde. Mit offenem Mund, aufgerissenen Augen, ausgebreiteten Armen. Sie könnte es nicht fassen. Könnte nicht mehr sprechen. Zwei Personen vielleicht würden sich diskret vom Tisch erheben und das Buch liegen lassen. Der alte Freund schnappte nach Luft. Dann ergriffe Beuzaboc das Wort. Spräche bei Tisch zu den verbliebenen Gästen. Sie seien alles, was er besitze, würde er sagen, alles. Deshalb seien sie da. Sie sollten sich wieder hinsetzen und hören, was er ihnen zu sagen habe. Er habe die Wahrheit verbogen. Weil er sich gewünscht habe, ein anderer zu sein. Weil er, indem er seiner Tochter im Dunkel des Kinderzimmers vom Krieg erzählte, ein Werk des Gedenkens geschaffen habe. Er habe alte Widerstandskämpfer gekannt. Er habe sie geliebt und ihnen in der Menge zugejubelt, er habe ihnen das letzte Geleit gegeben, bis nur noch eine Handvoll übrig gewesen sei, dann seien auch noch die letzten unter den welken Fahnen eines verblichenen Abenteuers von ihren ahnungslosen, zerstreuten Kindern zu Grabe

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