Die Legende unserer Väter - Roman
nicht.«
»Jetzt wissen Sie immerhin, was Sie wissen wollten.«
Ja, ich wusste es. Ich hatte gewusst, dass dieser Augenblick kommen würde, aber ich hatte ihn mir nicht so vorgestellt. Ich hatte Beuzaboc wie von einer Faust getroffen vor mir gesehen. Mit gesenktem Kopf, hängenden Schultern und wirrem Blick. Heftig atmend, flehend. Ich hatte mich getäuscht. Nichts von all dem passierte. Er blickte mir ins Gesicht und fragte mich um Rat. Mit der müden Stimme eines verwirrten alten Mannes.
»Annequin, ist das wahr?«
»Ja, das ist wahr. Ich bin am 11. November 1940 mit meinen beiden Regimentskameraden zum Grab des Soldaten Osborne gefahren.«
»Und das hat sich genau so abgespielt? Die Fahrradfahrt? Der Blumenstrauß? Die Solidaritätsadresse?«
»Genau so wars.«
»Die Geschichte hat Ihnen aber nicht genügt?«
»Sie hat weder Lupuline noch mir genügt. Mir war nach etwas, das woanders hinführt.«
Beuzaboc sah mich immer noch an, als erwartete er nun von mir eine Antwort. Ich hielt mein Notizbuch in der einen, den Stift in der anderen Hand.
»Und jetzt?«, fragte er wieder.
Was jetzt? Ich wusste es nicht. Er müsste mir helfen. Er müsste mir sagen, was zu tun sei und wie. Er bückte sich, um seinen Stock aufzuheben, und klemmte ihn zwischen die Schenkel.
»Sie wurden bei dem Fliegerangriff verwundet?«
»Nein, ich hatte einen Unfall in der Werkstatt.«
»Einen Unfall?«
»Eine schlecht getrimmte Ladung hat mir im Februar ’41 das Bein zerquetscht.«
Ich betrachtete den leuchtenden Globus. Sah Lupulines Diamantenblick.
»Und die Geschichte von dem deutschen Soldaten?«
»Ein Kindermärchen.«
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
»Und Wimpy?«
»Auch. Wie alles andere. Eine Legende …«
Ich wollte dieses Zimmer verlassen. Ins vertraute Wohnzimmer zurück. Ich mochte das milchige Licht nicht. Mich nicht auf diesem Fata-Morgana-Lager. Ihn nicht auf diesem Lügenhocker. Also löschte er alle Lichter, schloss das Fenster, und wir gingen wieder ins Wohnzimmer. Er setzte sich in seinen Sessel, ich mich an meinen Tisch.
»Warum waren Sie einverstanden, mich zu treffen?«
Beuzaboc wischte sich die Hände an den Schenkeln ab.
»Das frage ich mich seit zwei Monaten.«
»Haben Sie die Antwort gefunden?«
»Eine, ja. Wahrscheinlich. Sie ist mir eben erst eingefallen, im Zimmer der Kleinen. Ich dachte, dass all das aufhören muss.«
»Sie hätten auch früher damit aufhören können.«
»Und dann?«
»Und dann nicht mehr daran rühren. Dann wäre alles schön an seinem Platz geblieben.«
»Für wen?«
»Für Lupuline. Für mich. Und auch für Sie.«
»Sie sprechen von dem Helden Beuzaboc?«
»Sie haben sie mit Träumen gefüttert.«
Der alte Mann lachte. Ein kurzes Lachen, wie wenn Luft aus einer vollen Kehle entweicht.
»Letzte Woche haben Sie die erwähnt, die weggeschaut haben. Das ist es. Ich habe keinen verraten, ich habe mich aber auch nicht engagiert. Ich habe während des Krieges weggeschaut.«
»Vielleicht aufgrund Ihres Unfalls?«
»Und was machen wir jetzt?«
Ich wusste es nicht. Ich dachte an einen jungen Mann, der mit einundzwanzig ein Bein verloren hatte und dann seinen Kopf und seinen Mut und überhaupt alles. Ich fing an, meine Notizbücher und meine Stifte wegzuräumen. Und wischte mir mit dem Ärmel die Stirn.
»Wie wollen Sie Lupuline erklären, dass wir nicht weitermachen?«, fragte der alte Mann.
Ich verstand die Frage nicht. Lupuline? Nicht ich müsste mit ihr reden. Und wozu? Was sollte ich ihr denn sagen? Dass alles bloß eine Farce war? Dass der Mann, der ihr im Licht des Globusses so viele Geschichten erzählt hatte, nur ein verwundeter Arbeiter war? Der während des Krieges das Trottoir anstarrte? Dessen einzige Heldentat darin bestanden hatte, dass er einen Blumenstrauß auf ein englisches Grab legte, wie Tausende andere Hände andere Blumensträuße irgendwohin? Was hatte das alles mit Lupuline zu tun?
»Ich muss ihr nichts erklären«, sagte ich.
»Dann haben wir den ganzen Weg umsonst zurückgelegt?«
»Was für einen Weg?«
»Immerhin hat er uns beide bis hierher geführt.«
»Ich mag das hier nicht.«
Beuzaboc lächelte. Ich war schon aufgestanden, ließ mich aber auf meinen Stuhl zurücksinken.
»Mag sein. Aber wir können auch nicht mehr zurück.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Sie sind mein Biograph, und Sie sind Journalist. Ich beobachte Sie seit dem ersten Tag. Und seit unserer ersten Begegnung weiß ich, dass Sie kein Mann sind, der
Weitere Kostenlose Bücher