Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
erfuhr. Vor Zorn zertrümmerte er eine Toilettentür mit bloßer Faust. Am 3. April 1944, am Tag nach dem Gemetzel. Alle Männer tot. Ascq ein Märtyrerdorf. Bloß weil eine lächerliche Bombe einem Zug ein paar Kratzer zugefügt hatte.
    Die Eisenbahnwerkstätten von Hellemmes verweigerten die Arbeit. Im Depot von Délivrance verschränkten Beuzaboc und seine Kollegen die Arme. Über fünfzehntausend Menschen wohnten am 5. April um 11.30 Uhr dem Begräbnis bei. Kein Deutscher wagte es, sich dort blicken zu lassen. Die Besatzer hatten jegliche Rede untersagt. Kardinal Liénart sprachtrotzdem. »Die offizielle Ehrung der Toten Frankreichs« fand trotzdem statt. In den Fabriken der Region Lille hielten Tausende Arbeiter eine Schweigeminute ein oder legten die Arbeit nieder. Hunderte andere spendeten einen Stundenlohn für die Witwen der Ermordeten.
    Beuzaboc war dabei, in der Menge, die den Opfern die Ehre erwies. Er war angespannt. Wie alle anderen. Mehr würde ich über Ascq nicht schreiben.

23
    Beuzaboc betrat mein Büro, die Hand ausgestreckt, ohne ein Wort zu sagen. Seine Größe ließ mein Reich schrumpfen. Er setzte sich mir gegenüber. Ich blieb stehen, peinlich berührt. Er hatte nicht angerufen, keinen Termin vereinbart, nichts. Einfach geklingelt und zweimal geklopft, wie ein Code unter Kindern. Ich dachte, es wäre Lupuline oder der Postbote mit einem Einschreiben. Als ich mit einem Glas Wasser in der Hand die Tür aufmachte, stand der alte Mann davor, mit Stock und Brille.
    »Hier schreiben Sie also?«
    Ich lächelte. Während er die Bücherwand betrachtete, ließ ich das Notizbuch, auf dem »Beuzaboc« stand, hinter einem Stapel von Unwichtigem verschwinden. »Das Buch ist fertig. Alles ist unangetastet geblieben. Ich habe Ghesquière in der Legende von Beuzaboc eingesperrt«, lautete mein letzter Satz. Außerdem drehte ich den schon frankierten Umschlag an Lupuline um, in dem mein Honorarscheck lag. Ich wollte das Geld nicht.
    Beuzaboc betrachtete gar nicht die Bücherwand. Er ließ sich nur Zeit. Ich bot ihm Kaffee an, ein Glas kaltes Wasser.
    »Dafür bin ich nicht hier«, sagte er lächelnd.
    Draußen regnete es. Ein paar Tropfen glitzerten noch in seinem Haar und auf den Schultern.
    Was hatte sein Besuch zu bedeuten? Ein Kunde, der seine Biographie vor der Drucklegung noch einmal lesen wollte? Ein Schauer lief mir über den Rücken. Das musste es sein. Auch wenn er das Gegenteil behauptet hatte. Auch wenn er mir vertraute, wollte er, aus Trotz und weil die Versuchung groß war, jetzt alles noch einmal lesen. Ich war ihm ausgeliefert. Ich stieß meinen Stuhl gegen die Wand. Trank Wasser. Trinken heißt oft Zeit gewinnen. Zitterte ein bisschen. Beschloss, nichts zu sagen. Er starrte mich an. Lächelte nicht mehr. Ich hörte schon seinen ersten Satz: »Ich will nur mal sehen, was Sie geschrieben haben.«
    Beuzaboc wischte sich einen Regentropfen von seiner Augenbraue. Auf meiner Schläfe stand Angstschweiß.
    »Haben Sie sich schon einmal in Ihren Vater versetzt?«
    Verdutzt stellte ich mein Glas ab.
    »In meinen Vater versetzt?«
    »Wie hätte er auf mich reagiert?«
    »Keine Ahnung«, murmelte ich.
    »Versuchen Sie zu antworten. Das ist wichtig für Sie.«
    »Für mich?«
    »Ja, für Sie. Ich gehöre nicht zu Ihrem Projekt.«
    »Ich verstehe Sie nicht.«
    »Sie haben sich doch von Anfang an nur für Ihren Vater interessiert, nicht für mich. Ihre Fragen, Ihre Anteilnahme, Ihre Haltung, das alles hatte nicht viel mit mir zu tun, das wissen Sie ganz genau. Also frage ich Sie: Wie hätte er auf einen Hochstapler reagiert?«
    Ich schwieg.
    Beuzaboc fuhr sich mit der Hand über die Lippen.
    »Jetzt hätte ich gern ein Glas Wasser.«
    Er trank, ohne mich aus den Augen zu lassen.
    »Hätte er mich verurteilt? Hätte er mir vergeben?«
    Ich schüttelte den Kopf. Antwortete sinnloses Zeug. Dass ich als Biograph nur der Geschichte folgte, die man mir erzähle, und nicht verstünde, was mein Vater im Leben von Tescelin Beuzaboc verloren habe.
    »Sehen Sie das denn nicht?«
    Ich nahm einen Schluck Wasser. Beuzaboc beobachtete meine Verwirrung.
    »Wissen Sie, was Sie von Ihrem Vater geerbt haben?« Er spielte mit seinem Stock und wich meinem Blick aus. »Seine Wahrheit.« Er stand auf. Kehrte mir seinen Rücken zu. »Und ich will nicht meine Lügen hinterlassen.«

24
DIENSTAG, 28. OKTOBER 2003, RUE DE BÉTHUNE
    Lupuline hatte weißen Stoff besorgt und bunte Schmetterlinge aus Federn. Liebevoll zwölf

Weitere Kostenlose Bücher