Pioniere des Kosmos
1.
Die Schlange der Wartenden war drei Kilometer lang. Sie zog sich im Nieselregen neben dem hohen Maschendrahtzaun dahin, und der Wagen, der den Grenzer zum Transportschiff brachte, mußte seine Geschwindigkeit fast bis zum Stillstand drosseln und anhaltend hupen, bevor die Menge die Durchfahrt zum Tor freigab.
Nach dem Passieren des Tores fuhr er auf der anderen Seite des Zaunes ein Stück zurück zur Passagierabfertigung. Die Lücke in der Schlange schloß sich sofort wieder, und keiner von denen, die dem Fahrzeug Platz gemacht hatten, schenkte ihm einen zweiten Blick. Etwas wie eine gemeinsame Benommenheit lag über ihnen. Es war, als ob der düstere Herbsttag unter dem wolkenverhangenen Himmel alle Lebensfarbe aus ihnen gewaschen und ihnen seine eigene trübe Kälte mitgeteilt hätte. Sie standen stumpf und geduldig, rückten mit mechanischen Bewegungen vor, wenn die Schlange sich wieder weiterschob, kamen bis zum nächsten Vorrücken zur Ruhe. Diejenigen, die als Partner gingen, entweder weil ihre Nummern gleichzeitig gezogen worden waren, oder weil eine Frau oder ein Mann sich entschlossen hatte, den von der Lotterie zur Auswanderung bestimmten Ehepartner zu begleiten, hielten einander bei den Händen. Aber das war alles.
Es gab fast keine Gespräche. Beinahe jeder in der Warteschlange, von der siebzigjährigen alten Dame mit den arthritischen Fingern bis zu dem athletischen Mittdreißiger in dem roten Überrode mit den modisch wattierten Schultern, trug sein Handgepäck bei sich. Man sah Stadtkoffer, Reisetaschen, Rucksäcke, sogar Einkaufskörbe, Kartons und Papierbeutel. Der auffallend stattliche Mann in Rot hatte als einziges Gepäckstück eine Flasche Cognac, die er mit beiden Händen hielt, als könne er sich nicht entschließen, ob er sie hier und jetzt öffnen sollte oder nicht.
Tatsächlich konnte er sich nicht entschließen – nicht so sehr wegen der Bedeutung der Entscheidung selbst, sondern weil er sich in einem inneren Widerstreit befand. Er hatte alle Beruhigungsmittel verschmäht, sich aber am Vorabend, der sein letzter auf der Erde war, kräftig betrunken. Daher hatte er Kopfschmerzen und litt unter einem Kater, und ein Teil von ihm wollte die Cognacflasche öffnen und die belebende Wirkung des Alkohols genießen, während ein anderer Teil von ihm einen gesunden Widerwillen gegen geistige Getränke jeder Art empfand.
Dieser andere Teil hatte außerdem etwas mit seinem Namen zu tun, der Jarl Rakkal war. Es war ein sehr bekannter Name, und während der vergangenen drei Tage der Schulung und Unterweisung waren sogar einige von den anderen einberufenen Kolonisten in der Hoffnung, er könne irgend etwas für sie tun, mit ihren Klagen und Bitten zu ihm gekommen. Als sie gesehen hatten, daß er genauso hilflos war wie sie selbst und keine bessere Behandlung genoß›waren sie nicht mehr gekommen. Die Rakkals waren eine schwerreiche Sippe von Bankiers, und er selbst hatte es als Herausgeber und Verleger eines von ihm selbst gegründeten und zu großem Erfolg geführten Bildermagazins zu einigem Ansehen gebracht. Er wußte immer noch nicht, wie seine Nummer trotz seiner vielfältigen Beziehungen und politischen Verbindungen in die Lotterie hatte kommen können; sein Name und seine Position hätten ihn gegen dieses Schicksal absichern sollen. Natürlich konnte es auf Betreiben seiner Verwandten geschehen sein, die seine geschäftlichen Aktivitäten als unseriös mißbilligt und sich seiner geschämt hatten. Aber das war nicht länger wichtig. Worauf es jetzt, da es zu spät war, allein ankam, war Haltung. Er sollte es nicht nötig haben, am Tag seiner Einschiffung in einer künstlichen Benebelung der Sinne Trost zu suchen – nicht einmal, um über einen Kater wie diesen hinwegzukommen.
Zehn Schnitte weiter vorn in der Schlange war eine schmächtige kleine Person, die ein Kind zu sein schien, ein Mädchen von zehn oder zwölf Jahren. Aber Kinder waren von der Lotterie ausgenommen. Im Gegensatz zu Jarl Rakkal wunderte sich diese fast zwergenhaft kleine Person nicht über das Schicksal, das sie hierher in die Reihe geführt hatte; ihre Verwunderung galt eher dem Umstand, daß sie nicht schon vor Jahren in einer solchen Auswandererschlange gelandet war, denn Abweichungen von der physiologischen Norm wurden häufiger ausgelost als durchschnittliche Leute, was für eine Manipulation des Lotteriesystems sprach. Ihr Name war Lily Betaugh, und seit sie vor zwanzig Jahren mit dem Studium begonnen
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