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Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen

Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen

Titel: Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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jeden Treffens, bevor er mit der Lektion begann, erinnerte er mich daran. Sowohl Chade als auch dem König hatte ich Treue geschworen. Er mußte doch einsehen, daß ich wortbrüchig wurde, wenn ich gegen den König handelte.
    »Es ist ein Spiel, Junge«, erklärte Chade geduldig. »Nicht mehr. Nur ein harmloser kleiner Streich, keinesfalls ein Verbrechen, wie du zu glauben scheinst. Der einzige Grund, weshalb ich auf diese Idee verfallen bin, ist, daß die Gemächer des Königs und sein Eigentum so außerordentlich streng bewacht werden. Jeder kann einer Schneiderin die Schere entführen, aber wir reden hier von einem veritablen Husarenstückchen – unbemerkt in die Gemächer des Königs eindringen und etwas entwenden, das ihm gehört. Wenn du das bewerkstelligen könntest, würde ich glauben, daß die Mühe, die ich mir mit dir gegeben habe, nicht umsonst gewesen ist. Daß du zu würdigen verstehst, was ich dir beigebracht habe.«
    »Du weißt, daß ich zu würdigen verstehe, was du mir beigebracht hast«, warf ich schnell ein. Chade schien überhaupt nicht zu begreifen, was ich meinte. »Ich käme mir vor wie ein Verräter. Als würde ich das bei dir Gelernte benutzen, um den König zu hintergehen. Als würde ich ihn verhöhnen.«
    »Aha!« Chade lehnte sich zurück, er lächelte. »Keine Sorge deswegen, Junge. König Listenreich weiß einen guten Spaß zu würdigen. Was immer du wegnimmst, werde ich selbst ihm wiederbringen – ein Beweis dafür, daß ich ein guter Lehrer gewesen bin und du ein guter Schüler. Nimm etwas Wertloses, wenn es dich beruhigt; du mußt ihm nicht die Krone vom Kopf stehlen oder den Ring vom Finger! Nur seine Bürste oder ein Blatt Papier, das herumliegt, meinetwegen seinen Handschuh oder den Gürtel. Nichts Kostbares, lediglich ein Pfand.«
    Vielleicht hätte ich eine Weile mit mir zu Rate gehen sollen, aber ich wußte, daß es unnötig war. »Ich kann es nicht tun. Ich meine, ich will es nicht tun. König Listenreich werde ich nicht bestehlen. Jeden anderen, du brauchst nur den Namen zu nennen. Weißt du noch, wie ich Edel den Brief weggenommen habe? Du wirst sehen, ich kann überall ...«
    »Wie?« Das Wort klang gedehnt, ungläubig. »Vertraust du mir nicht? Ich sage dir, du brauchst keine Bedenken zu haben. Die Rede ist von einer Geschicklichkeitsprüfung, nicht von Hochverrat. Und dieses Mal, falls du ertappt wirst, verspreche ich dir einzugreifen und alles zu erklären. Man wird dich nicht bestrafen.«
    »Darum geht es nicht«, sagte ich verzweifelt. Ich spürte Chades wachsende Konsternation über meine Weigerung und zerbrach mir den Kopf, wie ich ihm meinen Standpunkt erklären sollte. »Ich habe dem König Treue geschworen. Und was du verlangst ...«
    »Ist keineswegs ein Treuebruch!« unterbrach Chade mich. Seine Augen funkelten zornig, ich wich überrascht zurück. So hatte er mich noch nie angesehen. »Was redest du da, Junge? Willst du sagen, daß ich von dir verlange, deinen König zu verraten? Sei kein Narr. Diese Aufgabe ist weiter nichts als eine kleine Prüfung, meine Art, Listenreich zu zeigen, was du gelernt hast, und du kneifst. Und versuchst, mit großen Worten deine Feigheit zu bemänteln. Junge, du enttäuschst mich. Ich dachte, du hättest mehr Rückgrat – sonst wäre ich auch nie bereit gewesen, dich in die Lehre zu nehmen.«
    »Chade!« Es war unfaßbar. Ich fühlte, wie meine kleine Welt ins Wanken geriet, als er mit kalter Stimme weitersprach.
    »Am besten kriechst du zurück in dein Bett, Knabe. Denk darüber nach, wie du mich heute beleidigst hast. Anzudeuten, ich hätte die Absicht, unseren König zu hintergehen. Hebe dich hinweg, kleiner Jämmerling. Und wenn ich dich das nächste Mal rufe, sei bereit, mir zu gehorchen. Oder bleib, wo du bist. Jetzt geh.«
    Nie hatte Chade bisher so zu mir gesprochen. Ich konnte mich nicht erinnern, daß er auch nur einmal die Stimme erhoben hatte. Verständnislos starrte ich auf den knochigen, pockennarbigen Arm, der sich aus dem Ärmel seines Gewandes reckte, auf den langen Finger, der so verachtungsvoll auf die Tür und die Treppe wies. Als ich aufstand, fühlte ich mich todelend. Ich schwankte und mußte mich nach den ersten paar Schritten an einem Stuhl festhalten. Doch ich ging aus dem Zimmer, wie er es verlangte, weil ich nicht wußte, was ich sonst tun sollte. Chade, der zum Mittelpunkt meiner Welt geworden war, der mir den Glauben an mich selbst gegeben hatte, beraubte mich des Wichtigsten in meinem Leben.

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