Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
ärgerlich: »Das wird zu heiß. Nimm den Tiegel aus dem Feuer, schnell!«
Seine Warnung kam zu spät. Schon barst das Gefäß mit einem Geräusch wie von brechendem Eis, und der Inhalt erfüllte Chades Zimmer mit einem beißenden Qualm, der für diesen Abend sämtlichen Gesprächen und Lektionen ein Ende machte.
So bald rief er mich nicht wieder zu sich. Der Unterricht in den anderen Fächern ging weiter, doch nach ein, zwei Wochen fing ich an, Chade zu vermissen. Ich wußte, diesmal wollte er mich nicht bestrafen, weil ich sein Mißfallen erregt hatte, er war einfach zu beschäftigt. Als ich eines Tages in einem müßigen Augenblick nach ihm spürte, fand ich nur Geheimnisse und Uneinigkeit. Und einen Klaps gegen den Hinterkopf, als Burrich mich ertappte.
»Schluß damit!« zischte er, ohne sich von meiner Miene gekränkter Unschuld täuschen zu lassen. Sein Blick wanderte durch die Box, die ich gerade ausmistete, als erwartete er, im Stroh verborgen eine Katze oder einen Hund zu entdecken. »Hier ist nichts«, sagte er dann stirnrunzelnd.
»Nichts, außer Mist und Stroh«, stimmte ich zu und rieb mir den Hinterkopf.«
»Was hast du dann gemacht?«
»Geträumt«, murmelte ich. »Nur geträumt.«
»Du kannst mich nicht zum Narren halten, Fitz«, grollte er. »Ich dulde keinen Unfug. Nicht in meinem Stall. Du wirst meine Tiere nicht verrückt machen. Oder Chivalrics Blut Schande bereiten. Merk dir, was ich gesagt habe.«
Ich biß die Zähne zusammen und fuhr mit der Arbeit fort. Nach ein paar Minuten hörte ich ihn seufzen und seine Schritte, die sich entfernten. Wütend hantierte ich mit der Forke und nahm mir vor, mich nie wieder von Burrich überrumpeln zu lassen.
Der Rest des Sommers war ein solcher Mahlstrom von Ereignissen, daß es mir schwerfällt, mich auf die Reihenfolge zu besinnen. Es lag etwas in der Luft. Bei meinen Ausflügen in die Stadt redeten alle von Befestigungen und Kampfbereitschaft. Nur zwei weitere Ortschaften wurden bis Ende Sommer überfallen, doch es schienen hundert zu sein, so oft wurden die Ereignisse wiedergekäut und bei jedem Erzählen weiter ausgeschmückt.
»Bis man glaubt, daß die Leute über gar nichts anderes mehr reden können«, beschwerte sich Molly bei mir.
Wir spazierten am Langen Strand im altgoldenen Licht der Sommerabendsonne. Der Wind vom Wasser her brachte willkommene Abkühlung nach einem schwülen Tag. Burrich war nach Springquell gerufen worden, weil man hoffte, er könnte herausfinden, weshalb sämtliches Vieh dort unter großflächigen Fellekzemen zu leiden hatte. Zwar fiel deshalb mein Vormittagsunterricht aus, dafür hatte ich aber die ganze Arbeit mit den Pferden und Hunden, erst recht, weil Cob mit Edel nach Turlake gegangen war, um während einer Sommerjagd seine Rosse und Bracken zu versorgen. Nun ja, wenigstens stand ich unter weniger strenger Aufsicht und hatte öfter Zeit, in die Stadt hinunterzulaufen.
Meine Abendspaziergänge mit Molly waren fast zur ständigen Einrichtung geworden. Der Gesundheitszustand ihres Vaters verschlechterte sich, und er brauchte nicht mehr viel zu trinken, um in einen bleiernen Schlaf zu fallen. Molly packte für uns ein Stück Käse oder Wurst ein oder einen kleinen Laib Brot und etwas Räucherfisch, dann nahmen wir unseren Korb und eine billige Flasche Wein und wanderten den Strand hinunter bis zu den Riffen. Dort saßen wir auf den sonnenwarmen Steinen, Molly plauderte über die Ereignisse des Tages und was man so redete, und ich hörte zu.
»Sara, die Tochter des Fleischers, hat mir erzählt, daß sie den Winter herbeisehnt. Die Stürme und das Eis werden die Roten Korsaren an ihren eigenen Küsten festhalten und uns eine Atempause verschaffen, meinte sie. Kerry war auch dabei, und er sagte, daß wir vielleicht vor den Roten Korsaren Ruhe hätten, aber nicht vor den Entfremdeten, die die Gegend unsicher machen. Es geht das Gerücht, daß einige von ihnen Ingot verlassen haben, seit es dort nichts mehr zu stehlen gibt, und nun als Straßenräuber den Reisenden auflauern.«
»Das glaube ich nicht. Eher sind es andere Räuber, die sich nur als Entfremdete ausgeben, um eine falsche Spur zu legen. Entfremdete haben keine Bindungen untereinander und wären gar nicht fähig, sich zu einer Gruppe zusammenzuschließen, um gemeinsam irgend etwas zu tun«, widersprach ich träge. Aus halbgeschlossenen Augen schaute ich über die glitzernden Wellen der Bucht. Ohne Molly anzusehen, spürte ich ihre Nähe, eine
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