Fleischessünde (German Edition)
1. KAPITEL
Ich bin das Gestern. Ich kenne das Morgen.
Aus dem Ägyptischen Totenbuch, Kapitel 17
M althus Krayl kauerte auf der Balkonbrüstung. Seine Hände ruhten auf den kräftigen, angespannten Oberschenkeln. Der Asphalt der Straße sechzehn Stockwerke unter ihm glänzte schwarz nach dem Regenschauer, der eben heruntergekommen war. Die Lichter der Straßenschlucht spiegelten sich darin. Darüber wölbte sich mit seinen Sternen der Nachthimmel. Malthus verlagerte das Gewicht auf seine Fußballen und beugte sich so weit vor, wie es ging, ohne das Gleichgewicht zu verlieren.
Er genoss den Kitzel und stellte sich vor, was passieren würde. Freier Fall. Der Adrenalinstoß, Wind in seinem Haar. Das Hemd würde sich in seinem Rücken aufbauschen. Sehr verlockend.
Er hatte nie geleugnet, ein Adrenalin-Junkie zu sein. Er liebte Grenzsituationen, den Kick, den es einem gab, wenn man von dieser Welle der Euphorie getragen wurde, die einem durch die Adern rauschte.
Aber Malthus hielt sich zurück. Nicht weil dieser Sturz ihn töten konnte, sondern weil er das eben nicht konnte. Er konnte ihm die Beine brechen. Aber das würde wieder verheilen, wie alles verheilte. Trotzdem musste er bei der Vorstellung lachen, was für ein Gesicht sein Opfer machen würde, wenn er plötzlich wie ein schwarzer Engel vom Himmel fiel. Engel war allerdings das falsche Wort.
Er hatte mehr von einem Teufel als von einem Engel. Er war ein Seelensammler, ein Reaper. Er tötete. Er fuhr die Seelen seiner Opfer ein. Die Schwarzen Seelen, die er zu Sutekh brachte, der sich von ihnen nährte. Es waren Mahlzeiten, die Sutekh pure Energie zuführten, köstlich gewürzt mit Geilheit, Gier und unverfälschter Sünde.
Ein feiner Job für Malthus. Ein bisschen dreckig, aber sonst ganz okay.
Sutekh. Er trug so viele Namen. Seth, Seteh, Herrscher der Wüste. Er war der Souverän des Chaos in der Unterwelt. Malthus nahm an, dass das der Grund war, warum die Sterblichen in ihm selbst eine Ausgeburt der Hölle sahen, denn er war nicht irgendein Reaper. Er war Sutekhs Sohn. Einer von vieren. Nein, nur noch von dreien, korrigierte sich Malthus. Lokan war tot. Abgeschlachtet, gehäutet.
Malthus blickte hinauf in den Nachthimmel und unterdrückte den Schmerz, den der Gedanke an den Tod seines Bruders ihm bereitete. Er musste sich konzentrieren. Er war auf der Jagd.
Sein Opfer war in dieser Nacht ein ganz spezielles. Nicht nur weil dessen Seele so schwarz und verdorben war, dass sie eigentlich auf eine Giftmülldeponie gehörte. Sie barg auch eine Informationsquelle, an die Malthus mit aller Gewalt herankommen wollte. Er war wie besessen von diesem Wunsch.
Aber als guter Jäger übte er sich in Geduld, während er jetzt auf dem Balkongeländer hockte. Wenn er eine Tugend besaß, dann war es Geduld.
Ein Taxi kam um die Ecke. Als es durch die Pfützen fuhr, spritzte Wasser zu beiden Seiten auf. Gespannt lauerte Malthus auf seinem Posten und beugte sich so weit vor, wie es gerade eben ging.
Das Taxi hielt an. Nach ein paar Sekunden öffnete sich die Tür hinten rechts, und ein Mann stieg aus. Pyotr Kuznetsov, Oberpriester der Sekte der Setnakhts. Malthus spürte ein Prickeln. Die Spannung stieg. Jetzt begann der interessante Teil der Jagd.
Kuznetsov wandte sich zur offenen Tür zurück und streckte dem Fahrgast, der noch im Wagen saß, die Hand entgegen. Eine Frau stieg aus. Blondes Haar, ausgeprägte Kurven. Eine Sterbliche. Galant geleitete der Priester sie zur Eingangshalle des Wohnhauses.
Leise fluchte Malthus vor sich hin. Die Jagd war vertagt.
Die farbigen Kontaktlinsen verdeckten das unvergleichliche Grün ihrer Augen. Calliope Kanes Augen waren an diesem Abend dunkelbraun. Ihr Haar hielt Calliope unter einer Perücke aus wilden, rotbraunen Locken verborgen. Ein raffiniertes Makeup ließ die charakteristische Nase und die Wangenknochen weniger ausgeprägt erscheinen. Mit einem Wort: Calliope Kane sah vollkommen anders aus als sonst. Selbst die Garderobe entsprach nicht ihrem Stil, der weit weniger aufdringlich und dafür eher zweckmäßig war. Aber an diesem Abend trug Calliope ein eng anliegendes, tief ausgeschnittenes Minikleid und auffällige High Heels.
Genau darum ging es. Es ging um menschliche Nähe, darum, etwas in ihr zu lösen. Nein. Es war nicht ihre Art, etwas zu beschönigen – es ging an diesem Abend um Sex. Um ein einfaches, sauberes, sozusagen klinisch reines Bedürfnis.
Es war achtundzwanzig Monate her, dass sie sich den Luxus
Weitere Kostenlose Bücher