Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen

Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen

Titel: Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
Vom Netzwerk:
Dorfgemeinschaft einzufügen. Sie stahlen ohne Reue, sogar von den eigenen Kindern, warfen mit Geld um sich und vertilgten gewaltige Mengen an Essen. Sie bereiteten niemandem eine Freude, von ihnen war kein gutes Wort zu bekommen, doch aus Schafsanger verlautete, man werde nicht aufgeben, bis der ›Rote Wahn‹ vergangen sei. Das gab den Rittern in Bocksburg etwas Hoffnung, an die sie sich klammern konnten. Sie sprachen bewundernd vom Mut der Dörfler und gelobten, es ihnen gleichzutun, sollte ihren Angehörigen das gleiche Schicksal widerfahren.
    Schafsanger und seine tapferen Einwohner dienten als leuchtendes Beispiel für alle Sechs Herzogtümer. König Listenreich erhob in ihrem Namen eine Sondersteuer. Man spendete Getreide für jene, die so sehr von der Pflege ihrer Angehörigen in Anspruch genommen waren, daß sie keine Zeit hatten, ihre Herden zu sammeln oder auf den verbrannten Feldern eine zweite Saat auszubringen. Andere gaben Geld, um neue Schiffe auf Kiel zu legen, und heuerten Söldner an, um entlang der Küste Patrouille zu reiten.
    Anfangs setzte die Bevölkerung ihren Stolz darein, daß man angesichts der Gefahr nicht klein beigab. Wer oben auf den Klippen am Meer lebte, betrachtete es als Ehrensache, nach feindlichen Schiffen auszuschauen. Läufer und Botenvögel und Signalfeuer wurden in Bereitschaft gehalten. Einige Dörfer sandten Vieh und Vorräte nach Schafsanger, um dort die größte Not zu lindern.
    Doch als die Wochen vergingen und keiner der zurückgekehrten Gefangenen irgendeine Besserung erkennen ließ, wirkten diese Bemühungen nicht mehr heroisch, sondern kläglich. Die entschiedensten Befürworter der Selbsthilfe erklärten nun, sollten sie den Roten Korsaren in die Hände fallen, würden sie lieber in Stücke gehackt und ins Meer geworfen werden, als zurückzukehren und ihren Familien solches Ungemach und solches Herzeleid zu verursachen.
    Am schlimmsten wirkte sich aus, glaube ich, daß in Zeiten wie diesen der Thron keine feste Vorstellung davon hatte, welche Maßnahmen zu treffen seien. Ein königliches Edikt, das den Untertanen die Bürde der Verantwortung abnahm und ihnen sagte, ob sie Gnadengeld zahlen sollten oder nicht, wäre in dieser Lage von unschätzbarem Wert gewesen. Ob ja oder nein, in jedem Fall wäre von irgendeiner Seite Widerspruch gekommen, aber wenigstens hätte der König eindeutig Stellung bezogen und seinem Volk ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Die verstärkten Patrouillen und Abwehrmaßnahmen allein erweckten lediglich den Eindruck, daß man auch in der Burg diese neue Bedrohung fürchtete, aber keine Strategie besaß, um ihr zu begegnen. Da von oben kein Erlaß kam, an den man sich halten konnte, nahmen die Küstenorte die Angelegenheit in die eigenen Hände. Die Ältesten versammelten sich, um zu beschließen, wie man auf eine Gnadengeldforderung der Roten Korsaren antworten solle. In einem Dorf entschied man so, im nächsten so.
    »Doch was zählt«, sagte Chade müde, »ist nicht, welche Entscheidung sie treffen. Daß es ihnen überlassen bleibt zu entscheiden, untergräbt ihre Loyalität dem Reich gegenüber. Ob sie den Tribut zahlen oder nicht, die Korsaren haben allen Grund, sich ins Fäustchen zu lachen. Denn indem sie sich mit der Frage befassen, sagen unsere Dörfler in Gedanken schon nicht mehr ›falls wir überfallen werden‹, sondern ›wenn wir überfallen werden‹, was bedeutet, daß sie sich im Geist schon in ihr Schicksal gefügt haben. Sie schauen auf ihre Nächsten, die Mutter auf ihr Kind, der Mann auf seine Eltern, und sehen sie bereits tot oder entfremdet. Und weil jeder für sich alleine steht, statt daß wir geschlossen der Gefahr die Stirn bieten, ist abzusehen, daß unser Reich in tausend kleine Gemeinwesen zersplittert, deren jedes nur seine eigenen Interessen verfolgt. Wenn Listenreich und Veritas nicht schnell handeln, ist das Königreich der Sechs Provinzen bald etwas, das nur mehr dem Namen nach existiert und in den Köpfen seiner ehemaligen Herrscher.«
    »Aber was können sie tun?« fragte ich. »Wie ihr Beschluß auch lautet, er wird falsch sein.« Ich nahm die Zange und schob den Tiegel, auf den ich aufpassen sollte, ein Stück tiefer in die Flammen.
    »Manchmal«, antwortete Chade brummend, »ist es besser, etwas Falsches zu tun, als überhaupt nichts. Wenn du, ein Junge und noch feucht hinter den Ohren, erkennen kannst, daß es in dieser Sache keine richtige Entscheidung gibt, sind auch alle anderen dazu in der

Weitere Kostenlose Bücher