Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
doch er wollte nicht. Ich wußte, wenn ich wieder mit den Gedanken zu ihm sprach, würde er mich strafen. Er ließ mich auch mit Nachtauge nur selten und wenig auf diese Art sprechen und strafte sogar den Wolf, wenn er zu viel mit mir redete. Ich begriff nicht, warum. »Nachtauge wartet«, wiederholte ich mit dem Mund.
»Ich weiß.«
»Jetzt ist eine gute Zeit, um zu jagen.«
»Es ist eine noch bessere Zeit für dich, um drinnen zu bleiben. Ich werde dir hier zu essen geben.«
»Nachtauge und ich wollen frisches Fleisch.« Bei dem Gedanken daran lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ein Kaninchen mit aufgerissenem Leib, noch lebenswarm dampfendes Blut. Danach gelüstete es mich.
»Nachtauge wird heute abend allein jagen müssen.« Dem-wir-folgen ging zum Fenster und öffnete die Läden einen Spalt. Frostige Luft strömte herein. Ich konnte Nachtauge wittern und, weiter entfernt, eine Schneekatze. Nachtauge winselte. »Fort mit dir«, sagte Dem-wir-folgen zu ihm. »Fort mit dir, geh jagen, such dir Beute. Ich habe nicht genug Speise, um auch dich noch satt zu machen.«
Nachtauge zog sich ins Dunkel jenseits des Lichtscheins zurück, aber nicht weit. Er wartete dort draußen auf mich, aber ich wußte, lange würde er nicht ausharren. Ihn plagte der Hunger ebenso wie mich.
Dem-wir-folgen ging zu dem Feuer, das die unangenehme Hitze verströmte. Ein Topf stand daneben. Er zog ihn mit dem Haken von den Flammen weg und hob den Deckel ab. Dampf quoll heraus und mit ihm Gerüche. Nach Getreide und Wurzeln und ein klein wenig Fleisch, kaum noch wahrzunehmen, aber ich war so hungrig, daß ich den guten Duft gierig einsog. Unwillkürlich stieg aus meiner Kehle ein Winseln, doch Dem-wir-folgen sah mich wieder mit diesem Blick an, der fast ein Zähnefletschen war. Also ging ich zurück zu dem harten Stuhl. Ich setzte mich hin. Ich wartete.
Dem-wir-folgen nahm sich viel Zeit. Er räumte alles Lederzeug vom Tisch und hängte es an einen Haken. Dann stellte er die hölzerne Büchse mit Fett auf ein Bord. Anschließend brachte er den heißen Topf und stellte zwei Schüsseln und zwei Becher auf den Tisch. Aus dem Schrank holte er Brot und ein kleines Glas mit Marmelade. Er schöpfte die dicke Suppe in meine Schüssel, aber ich wußte, ich durfte mich nicht darüber hermachen. Ich mußte stillsitzen und mich in Geduld üben, während er das Brot schnitt und mir ein Stück reichte. Es war erlaubt, das Brot in der Hand zu halten, aber ich durfte nicht hineinbeißen, bis er sich ebenfalls hinsetzte, mit seiner Schüssel und seiner Suppe und seinem Brot.
»Nimm deinen Löffel«, ermahnte er mich. Dann nahm er bedächtig auf seinem Stuhl neben mir Platz. Ich hielt den Löffel und das Brot in den Händen und wartete, wartete, wartete. Ich ließ ihn nicht aus den Augen, doch ich konnte nicht verhindern, daß mein Mund Kaubewegungen vollführte. Er wurde zornig. Ich preßte die Lippen zusammen. Endlich sagte er: »Jetzt wollen wir essen.«
Aber das Warten war noch nicht vorüber. Nur ein Bissen jeweils war gestattet. Er mußte gekaut und hinuntergeschluckt sein, bevor ich weiteraß, oder Dem-wir-folgen versetzte mir einen Stoß. Von der Suppe durfte ich nur soviel nehmen, wie auf den Löffel paßte. Ich griff nach dem Becher und trank daraus. Dem-wir-folgen lächelte mir zu. »Gut, Fitz. Guter Junge.«
Ich erwiderte das Lächeln, dann aber nahm ich einen zu großen Bissen Brot, und er runzelte die Stirn. Ich bemühte mich, langsam zu kauen, aber ich hatte solchen Hunger, und das Essen stand vor mir, und ich konnte nicht begreifen, weshalb dieses dumme Ritual mir verbot, es hinunterzuschlingen. Er hatte die Suppe absichtlich zu heiß gemacht, damit ich mir den Mund verbrannte, wenn ich zu gierig darüber herfiel. Ich bewegte diesen Gedanken eine Weile in meinem Kopf hin und her, dann sagte ich: »Du hast die Suppe absichtlich zu heiß werden lassen. Damit ich mir den Mund verbrenne, wenn ich zu schnell esse.«
Diesmal dauerte es eine Weile, bis er lächelte. Er nickte bestätigend.
Trotzdem war ich früher fertig als er. Die Regeln verlangten, daß ich auf dem Stuhl sitzen blieb, bis auch er aufgegessen hatte.
»Nun, Fitz«, meinte er endlich. »War kein schlechter Tag heute, was meinst du?«
Ich schaute ihn an.
»Gib Antwort«, forderte er mich auf. »Sag etwas.«
»Was?« fragte ich.
»Irgendwas.«
»Irgendwas.«
Er runzelte die Stirn, und ich hätte gerne geknurrt, weil ich doch getan hatte, was er wollte. Nach einer
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