Die Legende von Carter Prewitt
gar nicht in dieses feudale Etablissement. Aber daran verschwendete er nicht einen einzigen Gedanken.
Immer mehr Gäste kamen. Einige der Männer kannte Carter Prewitt. So mancher abschätzender, forschender Blick streifte ihn. Er fiel auf. Doch der verwilderte Bart in seinem Gesicht verhinderte, dass er erkannt wurde. Man verlor sehr schnell wieder das Interesse an ihm.
Kurz vor acht Uhr erschien John Warner. Er stellte sich an den Tresen und bekam ein Glas Whisky.
Carter Prewitt beobachtete den Revolvermann. Warner hatte sich kaum verändert. Die Linien in seinem Gesicht schienen sich ein wenig vertieft zu haben. Und seine Haare wiesen einen grauen Schimmer auf. Carter Prewitt entging nicht der Revolver, der in einem offenen Holster an Warners rechtem Oberschenkel steckte.
Schließlich tauchte Brad Malone auf. Drei Männer, die mit Revolvern bewaffnet waren, begleiteten ihn. Einer ging voraus, die beiden anderen folgten Malone. Er ging zu einem Tisch, an dem bereits einige sonntäglich gekleidete Bürger der Stadt saßen. Unter ihnen war auch Herb Cassidy, der Direktor der hiesigen Bank. Malone wurde übertrieben herzlich und überschwänglich begrüßt und ließ sich nieder, während sich seine Leibgarde zu John Warner gesellte.
Malone saß mit dem Rücken zu Carter Prewitt. Dessen stechender Blick hatte sich an dem Mörder seines Vaters festgesaugt. Ihn überfiel eine geradezu lähmende Kälte. Und es lag etwas darunter - eine schwelende Glut aus Hass und Leidenschaft, vielleicht sogar tödlicher Begierde. Ein hässliches Funkeln stieg aus der Tiefe seiner Augen. Es war wie ein Rausch.
Carter Prewitt beherrschte sich. Als er sich eine Zigarette drehte, merkte er, dass seine Hände leicht zitterten. Seine Nerven hatten sich noch nicht beruhigt. Er hatte den Aufruhr in seinem Innersten noch nicht unter Kontrolle gebracht.
Um neun Uhr wurde der rote Vorhang vor der Bühne zur Seite gezogen. Der Auftritt einer Sängerin namens Lea Light wurde angekündigt. Der Klavierspieler setzte sich an sein Instrument. Dann kam die Sängerin auf die Bühne. Sie trug ein knöchellanges, rotes Kleid, das die Schultern frei ließ. Lea Light war nicht mehr ganz jung, aber ausgesprochen attraktiv und von fraulicher Reife. Ihre Haare waren von rötlicher Farbe und fielen in weichen Wellen auf ihre Schultern. Sie sang ein altes, mexikanisches Liebeslied. Nach dem letzten Ton setzte anhaltender Beifall ein.
Nach der gesanglichen Darbietung traten sechs Tänzerinnen auf. Und nach ihnen bot ein Zauberer seine Kunst dar. Unter anderem zauberte er eine Taube aus einem Zylinder.
Es ging auf Mitternacht zu, als Carter Prewitt den Cristal Palace verließ. Tief zog er draußen die frische Luft in seine Lungen. Ein kalter Wind fächelte sein Gesicht. Er ging ins Hotel und holte sein Gewehr, kehrte in die Nähe des Saloons zurück und wartete in einer Passage zwischen zwei Gebäuden. Seine Gestalt verschmolz mit der Dunkelheit, die hier herrschte.
Seine Entschlossenheit, Brad Malone zu töten, war unumstößlich. Was aus ihm wurde, war ihm egal. Für ihn gab es keine Zukunft mehr. Seine Frau und die beiden Kinder kamen ihm in den Sinn. Er hatte keine Ahnung, wie die Sache mit Cole Shaugnessy ausgegangen war. Vielleicht lebten seine Kinder gar nicht mehr. Das Herz krampfte sich ihm zusammen beim Gedanken daran.
Ihn fröstelte es. Die Kälte kroch durch seine Stiefelsohlen und in seine Füße. Carter Prewitt ignorierte es. Die Kirchenglocke schlug. Zwei Schläge zählte der einsame Mann. Erste Gäste verließen den Cristal Palace. Es mochte auf halb drei Uhr zugehen, als Brad Malone mit seiner Leibgarde aus dem Saloon kam. Sie stiegen vom Vorbau, wandten sich auf dem Bohlengehsteig nach rechts und waren im Begriff, sich von Carter Prewitt zu entfernen.
»Malone!« Die Stimme klang wie brechender Stahl.
Die drei Männer, die Brad Malone begleiteten, fuhren herum, ihre Hände legten sich auf die Griffe der Revolver. Breitbeinig und nach vorne gekrümmt standen sie da und ihre Blicke suchten den Mann, der den Namen ihres Bosses gerufen hatte. Mit untrüglichem Instinkt verspürten sie die Bedrohung, die von dem Rufer ausging.
Brad Malone hatte sich umgedreht. Die Stimme klang in ihm nach, aber er konnte sie nicht zuordnen. »Was ist? Wer hat meinen Namen gerufen?«
Bei einer Hausecke etwa dreißig Yard entfernt war eine flüchtige Bewegung in der Dunkelheit wahrzunehmen.
»Es ist über zehn Jahre her, Malone«, rief Carter
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