Die Legende
weinen, denn die Schmerzen waren unerträglich.
»Ich schaffe es nicht«, hatte er gewimmert.
»Doch«, hatte sie ihm widersprochen. »Du mußt.«
»Die Schmerzen ...«
»Du hast schon andere Schmerzen ausgehalten. Kämpfe dagegen an.«
»Ich kann nicht. Ich bin am Ende.«
»Hör mir zu! Du bist Druss die Legende, und da draußen sterben Männer. Ein letztes Mal, Druss. Bitte. Du darfst nicht aufgeben wie ein einfacher Mann. Du bist Druss. Du kannst es. Halt sie auf. Du mußt sie aufhalten. Meine Mutter ist da draußen!«
Für einen Moment klärte sich sein Blick, und er sah ihren Wahnsinn. Er konnte ihn nicht verstehen, denn er wußte nichts von ihrem Leben, aber er spürte ihre Not. Mit einer Anstrengung, die ihm einen qualvollen Schrei entlockte, stellte er sich breitbeinig hin und klammerte sich mit einer Riesenhand an die Mauer, damit er nicht umfiel. Der Schmerz wurde stärker, aber jetzt war er wütend und nutzte ihn, um sich aufzuputschen.
Druss holte tief Luft. »Komm, kleine Caessa, wir wollen deine Mutter suchen«, sagte er. »Aber du mußt mir helfen. Ich bin ein bißchen wacklig auf den Beinen.«
Die Nadir drängten durch das Tor und weiter zu den wartenden Schwertern der Drenai. Über ihnen erhielt Rek die Nachricht von der Katastrophe. Für den Augenblick hatte der Angriff auf der Mauer nachgelassen, als die Männer sich unten im Tortunnel scharten.
»Zurück!« rief er. »Zu Mauer Fünf.« Männer rannten über das Gras, durch die verlassenen Straßen am Rande Delnochs, Straßen, die Druss vor so vielen Tagen von Menschen gesäubert hatte. Jetzt gab es keine Schlachtfelder mehr zwischen den Mauern, denn die Gebäude standen noch immer, verlassen und leer.
Krieger rannten zu der trügerischen Sicherheit von Mauer Fünf, ohne an die Nachhut an dem aufgebrochenen Tor zu denken. Gilad machte ihnen keinen Vorwurf und hatte seltsamerweise auch nicht den Wunsch, bei ihnen zu sein.
Nur Orrin bemerkte im Laufen die Nachhut. Er machte kehrt, um zu ihnen zu stoßen, aber Serbitar war neben ihm und packte seinen Arm. »Nein«, sagte er. »Es wäre sinnlos.«
Sie liefen weiter. Hinter ihnen überkletterten die Nadir die Mauer und nahmen die Verfolgung auf.
Am Tor ging das Butvergießen weiter. Druss kämpfte aus der Erinnerung heraus, hackte und hieb auf die vorrückenden Krieger ein, Togi starb, als eine kurze Lanze in seine Brust getrieben wurde; Gilad sah ihn nicht fallen. Für Caessa war das Bild ein anderes; es waren zehn Räuber, und Druss kämpfte allein gegen sie alle. Jedesmal, wenn er einen tötete, lächelte sie: Acht... neun ...
Der letzte Räuber, ein Mann, den sie nie vergessen hatte, weil er ihre Mutter getötet hatte, stürmte vor. Er trug einen goldenen Ohrring und hatte eine Narbe, die von der Augenbraue bis zum Kinn verlief. Sie hob ihr Schwert, warf sich nach vorn und rammte ihm die Klinge in den Bauch. Der untersetzte Nadir fiel rücklings und zog das Mädchen mit sich. Ein Messer drang zwischen ihren Schulterblättern ein. Doch sie spürte es nicht. Die Räuber waren alle tot, und zum erstenmal seit ihrer Kindheit war sie in Sicherheit. Ihre Mutter würde unter den Bäumen hervorkommen und sie nach Hause bringen, und Druss würde eine kräftige Mahlzeit vorgesetzt, und sie würden lachen. Und sie würde für ihn singen. Sie würde ...
Nur noch sieben Männer standen um Druss herum, und die Nadir umzingelten ihn. Eine Lanze stieß plötzlich vor, brach Druss die Rippen und durchstach eine Lunge. Snaga holte zu einem mörderischen Gegenschlag aus, der dem Mann den Arm von der Schulter trennte. Als er fiel, schnitt Gilad ihm die Kehle durch. Dann fiel Gilad selbst, eine Lanze im Rücken, und Druss stand allein. Die Nadir zogen sich zurück, als einer ihrer Hauptleute nach vorn kam.
»Erinnerst du dich noch an mich, Todeswanderer?« fragte er.
Druss zog die Lanze aus seiner Seite und schleuderte sie von sich.
»Ich erinnere mich an dich, Dickbauch. Der Herold!«
»Du hast gesagt, du wolltest meine Seele, aber jetzt stehe ich hier, und du stirbst. Was hältst du davon?«
Plötzlich hob Druss den Arm und schleuderte Snaga, die den Kopf des Herolds wie einen Kürbis spaltete.
»Ich denk, du redest zuviel«, sagte Druss. Er fiel auf die Knie und sah, wie das Lebensblut aus ihm herausströmte. Gilad lag neben ihm im Sterben, doch seine Augen waren offen. »Es war gut, gelebt zu haben, was, Junge?«
Um sie herum standen die Nadir, aber niemand bewegte sich. Druss sah auf und
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