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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Mensing
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jemand ein paar Worte, scharf und laut, in einer Sprache, die er lange nicht mehr gehört hat. Drei Deutsche in Uniform stehen am anderen Ufer, das |204| Gewehr im Anschlag, keiner von ihnen ist älter als zwanzig. Noch während Józef die Hände hebt, erreichen ihn die polnischen Grenzsoldaten, die durch den Lärm auf ihn aufmerksam gemacht worden sind. Er wird festgenommen, und vier Wochen darauf, am 14. Dezember 1956, verurteilt ihn das Gericht in Zgorzelec wegen des Versuches, illegal die Grenze zur Deutschen Demokratischen Republik zu überqueren, zu einer Haftstrafe von einem Jahr. Józef Koźlik kommt wieder ins Gefängnis.

 
    |205| A n Józefs Briefe kann ich mich nicht erinnern. Als Kind sammelte ich Briefmarken, und die kleinformatigen Umschläge mit den bunten Postwertzeichen wären mir sicher aufgefallen. Mein Vater muss diese Briefe allein gelesen haben, in seinem Arbeitszimmer im Erdgeschoss unseres Hauses. Sollte er bei der Lektüre aufgesehen haben, wäre sein Blick aus dem Fenster hinaus in den verwilderten Garten gefallen. Mit Sicherheit allerdings hat er die Briefe zuletzt ganz nach hinten in die unterste Schublade seines Schreibtischs gelegt, in die Zigarrenkiste, in der er sie noch viele Jahre über Józefs Tod hinaus aufbewahrte.
    Doch Anfang der Achtziger kamen noch andere Briefe aus Polen. Auf der Rückseite stand dieselbe Adresse, nur ein anderer Name. Sie stammten von Józefs Schwester Anna. Und diese Briefe waren kein Geheimnis. Alle paar Wochen lag einer der Umschläge ganz selbstverständlich mit der übrigen Post auf unserem Küchentisch.
    Polen wurde damals oft in den Nachrichten erwähnt. Man berichtete über die Streiks auf den Werften in Danzig und über die Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft mit dem Namen
Solidarność
, und es wurden Befürchtungen geäußert, die Sowjetunion könne Panzer in das Land schicken. Ich war damals zehn Jahre alt. Ich weiß nicht, wie viel ich von den Nachrichten, die ich aufschnappte, verstanden |206| habe. Doch ich kann mich gut an jenen Sonntag im Dezember 1981 erinnern, zwei Wochen vor Weihnachten, als das Küchenradio bereits während des Frühstücks lief, weil mein Vater die neuesten Meldungen aus Polen verfolgen wollte. Oppositionelle und unliebsame Parteimitglieder wurden verhaftet, Polizei und Militär kontrollierten das Land, und die Regierungsgeschäfte wurden von einer Gruppe von Generälen ausgeübt. Es hieß, in Polen sei das Kriegsrecht ausgerufen worden. Den bedrohlichen Klang dieses Wortes habe ich noch im Ohr, genau wie ich bis heute das regungslose Gesicht meines Vaters vor mir sehe, der dem Radio lauschte.
    Die Nachrichten waren in jenen Jahren oft beunruhigend, Mittelstreckenraketen und Atomsprengköpfe, Ölkrise und Waldsterben, aber die Neuigkeiten aus Polen waren etwas anderes. Sie hatten etwas mit uns zu tun. Schließlich hatten wir dort Verwandte. Dieses Wort fiel allerdings kein einziges Mal, und das, obwohl meine Mutter regelmäßig Pakete nach Steblau schickte, mit Konservendosen und Medikamenten, Kaffee und Tabak.
    Zurück kamen lange Briefe von Anna. Mein Vater warf nur einen kurzen Blick auf den Absender, dann schob er die Briefe meiner Mutter zu, die sie öffnete und laut aus ihnen vorlas. Es waren Berichte aus dem Alltag einer ganz normalen Familie. Anna war mit Ryszard verheiratet, einem Bahnbeamten, der bereits pensioniert war. Ihr Sohn Henryk lebte ebenfalls in Steblau; er und seine Frau Bronia hatten zwei Kinder. Anna schrieb von ihren Enkeln, von der Einschulung und von den Leistungen in der Schule, von Kommunionsfeiern, von Namenstagen und Geburtstagen, und meine Mutter legte Schokolade und Bonbons für die |207| Kinder in die Pakete. Manchmal äußerte Anna einen Wunsch und bat meine Mutter um eine Kräutertinktur von Doppelherz, um Nivea Creme oder ein Hautpflegemittel namens Kaloderma. Es waren Produkte und Marken, an die sie sich noch aus dem Krieg oder den Jahren davor erinnern musste, als im polnischen Grenzland Waren aus deutscher Produktion verkauft wurden, und Annas Briefe endeten immer mit einer längeren Aufzählung, in der sie alles auflistete, was meine Mutter ihr geschickt hatte, damit sie überprüfen konnte, was die polnischen Zollbeamten bei der Kontrolle entnommen hatten.
    Anna schrieb diese Briefe an meine Eltern nicht selbst. Offenbar fühlte sie sich des Deutschen nicht mächtig genug. Sie erwähnte gelegentlich eine Nachbarin, die die Sprache besser beherrschte als sie und ihr beim

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